Fel Maris

Aus Nirgendmeer
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Auf den ersten Blick

Die Körpergrösse von ungefähr 165 Halbfingern ist von unaufälliger Normalität, die gesamte Gestalt wirkt recht filigran, die Züge erscheinen prägnant geschnitten und verraten bereits das gemischte Erbe, das sich in den fein angespitzen Ohren noch deutlicher ausdrückt: Fel ist ohne Mühe als Halbblut eines menschlichen und eines hochelfischen Elternteils zu identifizieren.

In den blauen Augen findet sich offenes Interesse, gemildert durch Wachsamkeit. Wenngleich nicht unangemessen nervös, wirkt sie wie jemand, der gern über die eigene Schulter sieht, stets getrieben von immer präsentem schlechten Gewissen.

Das rotblonde Schopfhaar wird nur selten offen getragen und lockt sich bei der geringsten Feuchtigkeit, formt damit einen ungehorsamen Gegensatz zur moderat unaufälligen Kleiderwahl.

Das gemischte Erbe macht es schwer durch das Aussehen allein ihr Alter einzuschätzen: Sie ist ohne Zweifel erwachsen, darüber hinaus erlaubt weitere Beobachtung von Verhalten und Gebaren die Einschätzung, dass sie sich irgendwo im Bereich zwischen Anfang und Mitte Zwanzig befinden sollte.


Eigenheiten und Merkmale

  • die linke Hand gehorcht merklich schlechter, die Finger sind unflexibel
  • Furcht vor engen und dunklen Räumen, bisweilen Alpträume die auf ihre Zwangsarbeit im Bergwerk zurückgehen

Hintergrund

  • 417 geboren in Breitenbach
  • 428 bis 429: Arbeitsdienst im Strafbergwerk Breitenbach
  • 433 Verbannung aus Breitenbach und Ansiedlung in Grauhafen
  • 436 Anstellung im Handelshaus Telketh für einfachste Hilfsarbeiten
  • 440 Übersiedlung nach Rossensprung im Dienste des Hauses Telketh
  • 443 Beginn der magischen Ausbildung bei der blinden Seherin Myra
  • 447 Zwangsrekrutierung für die Armee entsprechend lokaler Gesetzgebung, Ausbildung durch Arngrimm Jerwalson
  • 450 Überfahrt im Zuge regulärer Dienstverpflichtungen, Schiffsbruch vor der neuen Insel, Spielbeginn
  • Vater "Gil Melethron" (Alter unbekannt, Verbleib unbekannt seit 416)
  • Mutter Lia Maris (* 385, Verbleib unbekannt seit 424)
  • Bruder Themon (* 410, Verbleib unbekannt seit 424)
  • Bruder Jasser (413 - 429)
  • Bruder Fihan (414 - 428)

Geschichte

"Ich verstehe das Problem nicht richtig. Die Worte haben eine ihnen innewohnende Kraft. Du musst dich einfach darauf einstimmen, dich ihrer Führung übergeben, während du gleichzeitig das Ziel des Zaubers selbst fest und bestimmt vor Augen hälst. Ich hätte geglaubt, dass gerade du damit keine Probleme hast."

Ludwig machte sich nicht die Mühe die Irritation aus seiner Stimme zu verdrängen. Er mochte Fel, aber sie war manchmal geradezu nervtötend begriffsstutzig, vor allem bei so einfachen Dingen wie den Worten der Macht. Das allein war noch kein Grund für Verärgerung, aber die Zeit für diese Art von Ausbildung war knapp bemessen und wertvoll: In den reichen Häusern Rossensprungs mochte es ja so sein, dass jemand mit der Gabe von allen Pflichten und Aufgaben freigestellt wurde, um sich ganz dem Studium dieser Kräfte zu widmen, aber das galt nicht dort, wo das Kopfsteinpflaster löchrig, die Dächer undicht und die Umgangsformen rauer wurden. Ludwigs war ein Schusterlehrling im dritten Jahr und das war es, was Essen auf den Tisch brachte. Diese Abende unter der Anleitung der alten Seherin fielen unter ein Siegel der Verschwiegenheit, zwangsläufig verborgen nicht nur vor der Obrigkeit, die mit harter Hand Loyalität und Dienst aller Zauberkundigen innerhalb der Grenzen der Stadtmauern einforderte, sondern eben auch vor dem knauserigen Schustermeister, der keine Gelegenheit ausließ um seine Lehrlinge zu schinden.

"Ich hätte gedacht, dass gerade du das verstehen solltest. Es sind nicht einfach nur Buchstaben auf Pergament, Fel. Du musst fühlen, was dahinter ist."

Fel war älter als Ludwig und schon länger eine Schülerin der alten blinden Seherin, die ihre windschiefe Hütte im Schatten der alten Mauer hatte. Rossensprung war auf unsicherem, sumpfigen Grund errichtet, die alte Mauer war ein Teil der ursprünglichen Kernsiedlung und dieser Tage zu weiten Teilen entweder versunken oder für Steine zerlegt. Nur hier und dort gab es noch Reste, die sich wie verbleibende Zähne in einem zertrümmerten Gebiss dem endgültigen Verfall entgegen stemmten.
Wer hier lebte, der tat es selten freiwillig, die Eltern in den hübscheren Viertel der florierenden Hafenstadt warnten ihre Kinder vor der Brache und den Krankheiten, die man sich dort einfangen konnte.

Mit diesen Geschichten war Ludwig aufgewachsen und auch jetzt schauderte er noch regelmäßig, wann immer er die schiefen Reste des Fischertors durchschritt und den allmählich verrottenden Planken und Hängebrücken folgte, die bis zum Haus seiner zweiten, inoffiziellen Lehrmeisterin führte.

"Du bist zu unbeweglich. Das System funktioniert nicht so. Du kannst nicht einfach nach strikten Gegensätzen schauen und diese einander zuordnen. Denk an die Brücken hier in der Brache: Sie biegen sich und schwanken, sind krumm und schief, aber sie führen dennoch meistens zum Ziel."

Magische Theorie auf dieser Ebene war für Ludwig vollkommen einsichtig, vielleicht weil er während seines gewöhnlichen Tagewerks so viel Zeit hatte, die Gedanken wandern zu lassen. Während die Finger mit Ahle, Falzzange, Klopfstein und Knieriemen beschäftigt waren, ließen sich die unverhandelbaren Komponenten der Zauber im Geist bestens zusammensetzen.

Fels Stimme ließ ihre Frustration durchklingen.
"Ich verstehe einfach nicht, warum es abweicht. Jeder der drei einfachen Schwächungszauber benutzt Nachtschatten als eine Reagenz. Jeder der drei einfachen Stärkungszauber benutzt Alraune als eine Reagenz. DES MANI zum Schwächen, UUS MANI zum Stärken. UUS WIS zum Schärfen des Geistes, aber REL WIS anstelle von DES WIS? UUS JUX meinetwegen um das Ungeschick zu erhöhen, aber dann wiederum weder DES JUX noch REL JUX, sondern EX UUS! Das letzte Paar benutzt dann immerhin passend jeweils Blutmoos, auch beim Zauber für die Geistesschärfe und die Dummheit findet sich gleichartig die Spinnenseide, aber ausgerechnet bei der Stärkung und Schwächung bricht das ganze System auf: Alraune und Schwarze Perle? Warum bitte?"

Das waren Fragen, die die alte Seherin normalerweise unbeantwortet ließ, mit einem Schulterzucken abtat, wann immer sie einem ihrer Schüler in die Quere kamen. Neugier brachte ihrer Meinung nach gar nichts: Wem half es schon zu wissen, warum genau nun bestimmte Bestandteile eines Zaubers zusammenwirkten, solange sie es taten? Zeit für solchen Firlefanz hatten nur reiche Schnösel, die nichts zu tun hatten, als über die Welt und den erstaunlichen Mangel an Frauen in ihrem Leben nachzudenken.

Und Ludwig hatte schon früh gelernt sich keine überflüssigen Fragen zu stellen.
"Ich weiß es nicht, Fel. Aber es braucht auch keine vollkommene Ordnung. Darüber hinaus hast du übersehen, dass der Schwächungszauber ebenfalls die Alraune verwendet. Das heisst in der ganz einfachen Umkehrung mit der Ersetzung von Nachtschatten durch eine Alraune, hättest du plötzlich deren zwei in Verwendung. Du brauchst also etwas anderes - oder um genauer zu sein .."

Ludwig ließ die Worte ausklingen, kapitulierend vor dem verwirrten Blick seiner Mitschülerin.
Wie sollte er etwas erklären, das sich nicht in offensichtliche starre Regeln einfügen ließ? Alles spielte zusammen, die Flexibilität des Systems bestätigte sich durch seine Wirksamkeit selbst. Wenn es scheinbar gegen hergeleitete Regeln verstieß, dann war das einfach ein Problem der Regeln, nicht das Systems selbst.

"Du wirst hier in der Brache keine Antwort darauf bekommen, Fel. Wir halten den Kopf unten und lernen was wir können. Und sobald die Alte uns für bereit hält, können wir unser Glück andernorts machen."

Wie lange würde das dauern?
Ludwig hatte keine Zweifel, dass er in wenigen Monaten alles gelernt haben würde, was die Seherin ihm anzubieten hatte. Selbst jetzt war für ihn bereits offensichtlich wie löchrig das Fundament ihrer Kenntnisse war, wie gering ihr Interesse die Magie wirklich zu verstehen. Fel dagegen hatte - unbegreiflich für ihn - Mühe selbst diese kleine Barriere zu nehmen. Sie war schlau genug und darüber hinaus bereits erwachsen, das alles hätte ihr einen Vorteil geben sollen, aber ein um das andere Mal fand Ludwig sich dabei Erklärungen abzugeben, die in ihrer Tiefe auch seine Erfahrungen letztlich überstiegen.

Nicht, dass es ihn störte: Er mochte Fel und ihre Aufmerksamkeit war angenehm. Beflügelnd. Trotz ihrer hartnäckigen Schwierigkeiten mit der Flexibilität und Beweglichkeit des Systems der Magie. Er würde das, daran hatte er keinen Zweifel, schon noch zu schätzen wissen. Genau wie ihn.

Der Uniformstoff war steif und kratzig, unbequem zu tragen und darüber hinaus verpflichtend für alle Rekruten im ersten Jahr. Die Kleiderordnung nahm dabei keine Rücksicht auf die Jahreszeiten oder besondere Gegebenheiten wie in Rossensprung, wo die schweren Stiefel allzu gern in saftig schmatzendem Schlamm steckenblieben oder dafür sorgten, dass der Halt auf schwankenden Hängebrücken verloren ging. Die Kleiderordnung scherte sich auch nicht darum, ob ein Rekrut den Versprechungen der Werber gefolgt und darum sein Kreuz unter einen Dienstvertrag gesetzt hatte, oder ob diese Verpflichtung als Teil einer angeborenen Gabe vorausgesetzt und dann eingefordert wurde.

Die Regeln und Gesetze waren jedenfalls eindeutig: Jeder Anwohner der Stadt hatte eventuelle magische Fähigkeiten zu registrieren und war darüber hinaus verpflichtet, eine fünfjährige Dienstpflicht in der Armee abzuleisten. Der ewigen Regel von Aktion und Reaktion folgend, hatte diese Gesetzgebung zur Entstehung eines Schwarzmarktes ganz besonderer Art geführt: Heimliche Ausbildung in den Künsten abseits des wachsamen Auges des Gesetzes. Damit war die Eskalationsspirale in Gang gesetzt: Auf das Ausweichen folgten verschärfte Gesetze und die Androhung strengerer Strafen.

Noch vor Wochenfrist war das für Fel eine zwar präsente, gleichzeitig aber abstrakte Sorge gewesen. Vier Tage später hatte sich die Welt auf den Kopf gestellt. Es war nicht so, als wären Fel die Gesetze nicht bekannt gewesen, aber erst als sie gezwungen wurde im drögen, halb unter Wasser stehenden Innenhof des gräflichen Gerichts der Hinrichtung ihrer mehrjährigen Lehrmeisterin zuzusehen, begriff sie wirklich, was sie bedeuteten.

Wer hatte die Büttel auf die Spur gebracht, wer war bereit gewesen, mit dem stehenden Kopfgeld von 50 Silbermünzen das eigene Gewissen zu erschlagen? Oder war es ein erbarmungsloser Zufall gewesen, der dem langjährigen verborgenen Treiben der blinden Seherin schließlich ein Ende bereitet hatte? Unter dem trüben Nachmittagshimmel voller tiefhängender grauer Wolke ballte Fel ihre Fäuste und schwor im Stillen Vergeltung für den Verrat.

Der Hinrichtung beizuwohnen war nicht einmal eine geplante Strafe, sondern schlichter, gedankenloser Zufall: Die gesamte im Südflügel des Gerichtsgebäudes untergebrachte Kompanie wurde zum Zeugen der Vollstreckung des gräflichen Rechts, so wollte es die Tradition. Und jene Kompanie würde für die nächsten fünf Jahre Fels Heimat sein.

Einen Magier zu finden, der die Ausbildung unwilliger Jungmagier ertrug, konnte keine leichte Aufgabe sein: Die Armee war nicht dafür bekannt, gut zu zahlen, wer seine Dienstjahre hinter sich gebracht hatte, der konnte leichte, sehr viel besser honorierte Arbeit ohne Mühe überall finden. Nach Fels Einschätzung konnte eine solche Person also nur ein inbrünstiger Karrierist sein, der leichtgläubig dem Irrglauben erleben war, sich mit dieser Art von Dienst einen besonders warmen Platz im Hinterteil des Grafen zu verdienen - oder ein Versager, der es außerhalb der Mauern der Kaserne noch nicht einmal fertig brachte die Stiefel zu schnüren ohne dazu aufgefordert worden zu sein.

Das kleine Büro im höchsten Geschoss des Westturms war nur über eine knarrende Holztreppe mit verzogenen Stufen zu erreichen, ein unvermeidlicher Tribut an das sumpfige Erbe Rossensprungs und die Feuchtigkeit, die auch jetzt langsam von allen Wänden im engen Aufgang tropfte. Vermutlich war all das hier einmal weiß getüncht gewesen, aber das Wasser hatte im Laufe der Jahre dunkle Streifen hinterlassen und eigenwillige Muster in die ehemals nüchterne Kargheit geprägt. Sichtbare Nägel und Querstangen aus Metall waren gleichermaßen von Rost gezeichnet. Alles war klamm und feucht, jede der krummen Stufen eine lauernde Falle für die noch nicht eingelaufenen Stiefel mit den noch viel zu dicken Sohlen und steifen Schäften.

Das Arbeitszimmer machte keinen wesentlich besseren Eindruck, der Geruch nach Schimmel war so übermächtig, dass Fel mit dem Hustenreiz kämpfte, kaum, dass sie die Türe hinter sich geschlossen hatte. Also kein Streber. Gut. Mit Abschaum hatte sie im Laufe der Jahre umzugehen gelernt.

"Rekrut Fel Maris. Mir wurde befohlen, mich hier zu melden."

Zum ersten Mal sah der Mann hinter dem wuchtigen, eigenwillig deformiert wirkenden Schreibtisch auf und Fel konnte exakt den Moment bestimmen, an dem der Mann der “Anomalie” bewußt wurde - allzu verräterisch flackern der Blick der wasserblauen Augen, bevor die Lippen sich zu einer dünnen, unwilligen Linie verzogen.

"Ich bin Arngrimm Jerwalson, Magier-Feldwebel der zweiten Kompanie und Euer zugeordneter Ausbilder für alle magischen Themen. Ihr habt offenbar bereits eine gewisse, illegale Vorbildung erhalten. Vermutlich bedeutet das, dass Euer Kopf mit gefährlichem Halbwissen vollgestopft ist. Es wird meine Aufgabe sein, dieses Problem zu korrigieren."

Die noch offen gehaltene Akte wurde geschlossen - das Papier bereits gewellt durch die unvermeidliche Feuchtigkeit - dann setzte der Mann nach: "Hübsche Ohren."

Fel spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen kroch. Das war plump, selbst für einen armseligen Wicht in einem traurigen Büro mit einem undankbaren Tagewerk. Es hätte keinen Grund geben sollen, sich peinlich berührt zu fühlen, aber dennoch kämpfte sie für lange Sekunden mit einer Antwort und bevor sie etwas herauswürgen konnte, hob der Mann schon wieder seine Stimme.

"Ich habe hier euren Dienstplan, der in einigen wesentlichen Punkten von dem anderer Rekruten abweicht. Es ist Eure Verantwortlich pünktlich zu allen angesetzten Terminen zu erscheinen - kein Gefreiter wird Euch an die Hand nehmen und hierher führen. Bringt Ihr es fertig Eure Ausbildung zu versäumen, werden diese Tage Eurer Dienstpflicht oben aufgeschlagen. Es ist also in Eurem besten Interesse, stets pünktlich zu sein. Es gibt derzeit nur drei Schüler, was bereits zwei mehr sind als meine Geduld her gibt. Eine erste Einführung zu den Worten der Macht beginnt in einer Stunde. Wegtreten."

Breitenbach, dieser Tage die größte Stadt der Grafschaft Siebensteig, war mit den acht Tugenden im Kopf gegründet worden. Davon zeugten auch dieser Tage noch die acht Türme der inneren Mauer, die jeweils die Namen eines der Erzengel trugen. In den Jahrhunderten seit der Grundsteinlegung war die Stadt weit über die Grenzen dieses Kern hinaus gewachsen, hatte die anliegende Furt vollkommen gezähmt und überbaut, auch das andere Seite des Ufers der Usser mit einverleibt um schließlich selbst die Grafenstadt Beiring in den Schatten zu stellen - zumindest wenn man allein die Einwohner zählte.

Die große Spaltung hatte Breitenbach zum wichtigsten Verbündeten Beirings gemacht und damit zu einem konservativen Vertreter einer Ordnung von Recht und Gesetz. Aus dem Sinnbild der acht Erzengel waren im Laufe der Jahre Posten gewachsen, die mit der tatsächlichen Kirche des Herrn nur sehr, sehr lose verbunden waren.
Aus der Gründerzeit blieb jedoch die Tradition erhalten, dass diese “Wahrer” nicht nur spezielle Aufgabengebiete in der Stadt zu erfüllen hatten, sondern darüber hinaus aus den Reihen ihrer Gefolgschaft legitimiert, erhoben - also gewählt wurden.

Der “Wahrer der Ordnung Havriels”, verpflichtet der Tugend der Rechtschaffenheit, war immer abwechselnd mit dem “Wahrer der Ordnung Gabriels” dazu verpflichtet, die Gesetze der Stadt auszulegen und Urteile zu sprechen. In einer idealen Welt hätte es keinen Unterschied zwischen einer Auslegung zwischen “Rechtschaffenheit” und “Gerechtigkeit” geben sollen, aber die Wirklichkeit sah einfach anders aus. Insbesondere aufsehenerregende Prozesse wurden denn auch von beiden Seiten gleichermaßen dafür instrumentalisiert, ihre Anhänger für die nächste Wahl zu motivieren.

Eine ganze Bande von Herumtreibern, Tunichtguten und Dieben in eine Falle zu locken und festzusetzen, war bereits ein Spektakel gewesen, das eigentliche Schaustück folgte dann jedoch mit dem Prozess bei dem letztlich Recht auf traditionelle Weise gesprochen wurde: Jeder der Ertappten, der schon früher einmal bei einem Diebstahl ertappt worden war, würde seine linke Hand verlieren. Jene, die in der Vergangenheit dem Gesetz entkommen waren, würden ein Jahr lang ihre Schuld gegenüber der Gesellschaft und den Tugenden n den Bergwerken abarbeiten.

In den folgenden Jahren sinnierte Fel in den dunkleren Stunden bisweilen darüber, welche Richtung ihr Leben wohl eingeschlagen hätte, wenn sie damals geistesgegenwärtig genug gewesen wäre, um bei der Angabe ihres Namens zu lügen: Hätte sie ein weiteres Jahr in den engen Tiefen durchgestanden, stets mit dem drückenden Gefühl endlosen, zerquetschenden Gewichts über dem Kopf, stets der Tatsache bewusst, dass Jasser, der letzte überlebende ihrer Brüder, sein Leben für den immer hungrigen Groll der grimmigen Stollen gegeben hatte?

Den modernen Zeiten geschuldet, schlug man im fortschrittlichen Jahr 433 nach der Gründung in Breitenbach keine Hände mehr ab, sondern zermalmte sie stattdessen. Das machte die ganze öffentlich durchgeführte Prozedur weniger blutig, aber nicht weniger beeindruckend: Nach dem fünften auf diese Weise gestraften Bandenmitglied kehrte unruhige Stille in die zuvor frohlockende Menge ein. Der Wahrer der Ordnung war es zufrieden: Er hatte vor allem im Angesicht des schwelenden Konflikts mit dem ewigen Konkurrenten Auenstein Entschlossenheit und Härte demonstriert, ohne sich zu unvernünftiger Rachsucht hinreißen zu lassen. Dem Gesetz - und der Gerechtigkeit - waren Genüge getan.

Für Fel, die die zuvor in ihrem Leben die Stadt auch nur verlassen hatte, war das hier draußen eine unbekannt Weite voller unklarer Gefahren.
Wie eine bittere Ironie des Schicksals, war es gerade der nahezu unerträgliche Schmerz der verstümmelten, nutzlosen Linken, die sie davon abhielt auf irgendwelchen Umwegen den Rückweg hinter die feindseligen Mauern Breitenbachs zu suchen.

Sie begann die Reise nicht allein, aber als sie Wochen später die Gestade Grauhafens an der Usser erreichte, war auch der letzte ihrer früheren Begleiter, Kameraden und Verbündeten verschwunden. Mit dem ersten Schritt hinein in die florierende Hafenstadt schwor sie sich von nun an ein neuer Mensch zu sein, den verhängnisvollen Pfaden der Vergangenheit nicht länger zu folgen. Wie eine Raupe, die sich verpuppte, um schließlich als Schmetterling ganz neue Horizonte zu entdecken.

Es sollte keinen ganzen Tag bis zum ersten Diebstahl brauchen.

Die Rivalität zwischen den beiden Grafschaften Auenstein und Siebensteig, ausgelöst durch die Absplitterung Auensteins im Jahr 42 nach der Gründung, hatte nach Fels Ermessen zu einer ganzen Anzahl von Kuriositäten im Laufe der Zeit geführt. Anekdoten, die manchmal vergessen ließen, wie ernst der Konflikt tatsächlich war. Aus dem stetigen Schwelen wurde immer wieder einmal ein abrupter Brand, ein gewalttätiges Ringen, das selbst jetzt, gute vierhundert Jahre nach dem Anfang noch niemand als tatsächlicher Sieger hervorgegangen war.

Eine dieser Kuriositäten war, dass Auenstein Frauen im Militärdienst erlaubte und ihnen sogar Zugang zu Offiziersrängen ermöglichte. Natürlich nicht uneingeschränkt: Fortschritt und Aufgeschlossenheit hin oder her, die 422 eingeführte große Reform bezog sich ausschließlich auf Magier (solange diese nicht auf einem Schiff dienten) und kürzte die Karriereleiter zudem auf den Rang eines Leutnants. Weibliche Kompetenz hin oder her, niemand wollte eine ganze Kompanie tatsächlich einer Frau ohne männliche Oberaufsicht anvertrauen.

Wenngleich die allgemeine Einschätzung war, dass Magier zu wertvoll waren, um als einfache Soldaten verschwendet zu werden, war eine Grundausbildung unumgänglich, wenn man sich einen Rang nicht direkt erkaufen konnte. Und das wiederum war die Ursache dafür, dass Fel nun mit einer ganzen Gruppe anderer Rekruten über schlammigen Grund kroch, um danach in klitschnasser, vollkommen verdreckter Uniform die hohe Kunst des Exerzierens zu üben.
Auensteins Militärphilosophie, zumindest soweit es den Teil in Rossensprung betraf, glaubte an Drill, Gehorsam und Drill. In ganzen Büchern wurde darüber lamentiert, wie es notwendig war neue Soldaten durch eine Hölle von Demütigung und Erniedrigung zu peitschen, bis aus dem gemeinsamen Schmerz der Gruppe schließlich ein Gemeinschaftsgefühl erwuchs, das letztlich bereit war auf einen feindlichen Pikenwall zu zu stürmen.

Die Doktrin erlaubte an diesem Punkt der Ausbildung keine Reagenzien oder andere Hilfsmittel für Magier, nichts, was es Fel ermöglichte hätte, mit den anderen Rekruten zumindest gleichzuziehen.

Gerade jetzt, in der Mitte einer sumpfigen Strecke mit knöchelhoch stehendem Wasser über saftigem, schlammigen Grund fühlte Fel sich dem Tode nah: Die Erschöpfung hing so tief in ihren Knochen, dass jeder einzelne Schritt sich wie eine Qual anfühlte und die geflüsterten Flüche ihrer Begleiter waren voller wütender Ressentiments: Eine Gruppe, so hatte der Ausbilder doziert, war nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Niemand durfte zurückgelassen werden, aktive Unterstützung war aber ebenfalls untersagt: Dies war schließlich die Grundausbildung!

Wo die schnellste Gruppe sich Lob und den besten Platz bei der Mittagsverpflegung erhalten würde, blieb für die Verlierer in diesem Wettrennen vielleicht nicht einmal genug Zeit, um überhaupt den Magen zu füllen, bevor bereits das Üben von Formationen im Gelände anstand. Zuckerbrot und Peitsche, alles für das Wohl der Armee und zur Motivation einer stetigen Verbesserung.

Nur, dass das System für Fel einfach nicht funktionierte: Allein ihretwegen hing die Gruppe weit hinter allen Anderen zurück und das entfachte nicht etwa das warme Feuer gemeinschaftlicher Verbundenheit sondern kalter Verachtung und Wut.

“Los, verdammt nochmal, vorwärts Maris!”
“Elendes Weib, warum mussten wir das Pech haben, sie zu bekommen.”
“Dreckiges Halbblut ist für nichts Nutze, wir sollten sie hier ersaufen lassen.”

Die gepressten Flüche wandelten sich in Fels Wahrnehmung in ein gleichförmiges Summen, unbedeutend vor der Erschöpfung. Nur einen Moment ausruhen. Innehalten.

Sie kam zu sich, als ihr Gesicht in das brackige Wasser getaucht wurde, eine unnachgiebige Hand im Nacken, die es ihr in Verbindung mit dem matschigen Untergrund unmöglich machte, irgendwo Halt zu finden. Die um sich schlagenden Arme fanden nur zähen Schlamm, die Füße steckten ohnehin noch tief genug im Matsch, dass die Gefahr bestand die Stiefel zu verlieren und die gesamte getragene Ausrüstung schränkte die verbleibende Beweglichkeit soweit ein, dass selbst ein auf den Rücken geworfener Käfer bessere Chancen gehabt hätte wieder auf die Füße zu kommen.
Das heiße Aufwallen von Panik erschöpfte sich binnen Sekunden und Fel spürte ihren ganzen Körper schwerer werden, während die Wahrnehmung sich eigenartig entfernte, schrumpfte. Das war es. Ersäuft wie ein junges Kätzchen im Sumpf von ihren eigenen Kameraden. Der Gedanke war nicht mehr genug, um die bleischwere Gleichgültigkeit abzustreifen, die sich ihrer bemächtigte.

Etwas, vielleicht ein Stiefel, traf ihre Flanke hart genug, um die Rippen nachgeben zu lassen, dann zerrte die feste Hand im Nacken ihren Kopf wieder aus dem schlammigen Nass.


Vier Stunden später saß Fel im längst schon vertrauten Büro Jerwalsons, der sie wie stets betrachtete: Ein Ärgernis, das ihn zwang, seine Zeit und Aufmerksamkeit für wichtigere Dinge einzusetzen.

“Ich habe ihn gewarnt. Aber Leutnant Caimbeul ist ein Patriot. Er ist einer dieser Männer, die ihren ganzen Stolz in ihre hohen Maßstäbe stecken und sich persönlich beleidigt fühlen, wenn etwas - oder jemand - nicht in der Lage ist, diese Maßstäbe zu erfüllen. Das funktioniert leidlich mit dem normalerweise vorhandenen Material, aber es war abzusehen, dass du ihn enttäuschen werden würdest. Wessen Schuld ist es also?”

Das Lächeln des Mannes war dünn, die unehrliche Maske eines Zyniker, der ohne die kleinste Scheu Fallen stellte und Fel fragte sich nicht zum ersten Mal, was Jerwalson hierher verschlagen, welches Schicksal ihn gezwungen hatte als Feldwebel der Auensteiner Armee zu dienen.

Unter dem kalkulierenden Blick des Ausbilders war sie sich ihrer eigenen Erscheinung nur zu bewußt: Das kurzgeschorene Haar betonte die Fremdartigkeit ihrer Gesichtszüge nur noch, die feinen Ohrspitzen waren ebenso unübersehbar, wie die filigrane Schmalheit der ganzen Statur. In der Stadt hatte es nie die Notwendigkeit gegeben Kraft oder Ausdauer zu entwickeln: Schnelle Reflexe und die Fähigkeit sich rasch wegzuducken waren selbst in Fels Jahren auf der Straße immer ausreichend gewesen und ihre Zeit im Dienst des Hauses Telketh hatte auch jenen Fähigkeiten die Schärfe genommen.
Die Uniform verbarg die straff um die Rippen gezogenen Verbände, aber natürlich würden sie im Einsatzbericht erwähnt sein, der sich vor Jerwalson auf dem Schreibtisch wellte. Die verdammte Feuchtigkeit war einfach überall.

“Es gibt keine Möglichkeit für Euch, in irgendwie angemessener Zeit diese Anforderungen zu erfüllen. Die beiden angebrochenen Rippen sind dahingehend ein Segen: Ihr seid für die nächsten Wochen vom regulären Außendienst befreit, könnt - und werdet - aber in dieser Zeit mit den regulären Studien fortfahren. Militärgeschichte, Strategie, Taktik und natürlich Magie. Macht Euch in der Zeit einen Kopf, wie Ihr mit der Situation umgehen wollt. Sitzt es aus, und ihr seid in einem Mond wieder in diesem Sumpf, nur dass es dieses Mal vielleicht niemanden gibt, der einen ..” - er blickte auf den Bericht hinab - “.. unglücklichen Unfall vermeiden kann.”

“Das ist nicht gerecht.”

Für lange Momente starrte Jerwalson nur, mehr Erstaunen als Verachtung in den wasserblauen Augen, dann lehnte er sich zurück in den abgewetzten Sessel um Fel zu studieren wie einen besonders absonderliche Fliege, die es gerade gewagt hatte ein Bad in seinem Weinglas zu nehmen.

“Ich bin erstaunt. Gerechtigkeit. Von Euch. Ein Mann, der die richtigen Fragen stellt, hat es nicht allzu schwer, die Herkunft eines Halbbluts nachzuvollziehen, auch wenn die Finger mich beinahe von der Fährte geworfen hätten.”
Er deutete beiläufig auf die linke Hand Fels, die sich unter der Geste ganz unwillkürlich zur Faust ballte. Nur ein scharfes Auge war in der Lage zu bemerken, dass sie nicht ganz gleichmäßig reagierten, nicht ganz so schnell, wie man es vielleicht erwarten sollte.

“Was wollt Ihr damit sagen?”

“Dass ich kein Schauspiel schätze. Ich bin sicher, dass Ihr besser als die meisten Rekruten dieser Armee wisst, dass man nichts geschenkt bekommt. Alles hat seinen Preis, auch wenn er manchmal erst später präsentiert wird.
Schön. Aus gegebenem Anlass werden wir Theorien und Übung zu heilender Magie vorziehen. Wir werden gleich sehen, wie gut ihr meine Anweisungen zur Anweisung des Ginsengsirups befolgt habt.”

Vor dem Aufstieg zur großen Handels- und Hafenstadt, war Rossensprung eine unbedeutende Ansiedlung gewesen, nicht einmal interessant genug für einen abgeordneten Ritter um die sumpfige Landschaft der hier in viele Finger zerfasernden Usser im Auge zu behalten.
Dennoch hatte es schon recht früh am Hauptlauf des Flusses ein paar einzelne Hütten gegeben: Ein Umschlagplatz für flussaufwärts geschlagenes Holz, das hierher geflößt und dann weiter in Richtung anderer Städte verschifft wurde.

Eine frühe Beschreibung der Ansiedlung aus dem Jahr 37 nach der Gründung beschrieb bereits den traurigen Alltag von Torfstechen, die mit dem unsicheren Grund und den heißen Quellen zu kämpfen hatten, erwähnte auch die stets präsente Feuchtigkeit die allzeit über der Stadt hing wie eine unerfreuliche Glocke. Rossensprung stank nach Schwefel, Fäulnis und Verfall, genug um den Autoren wettern zu lassen, dass es keine weiteren zwei Dutzend Jahre dauern würde, bis diese Brutstätte für Krankheiten und Niedergeschlagenheit menschenverlassen sei.

Das Schicksal wollte es anders, auch wenn in den kommenden Jahrzehnten eines vollkommen klar wurde: Was auch immer aus Stein gebaut wurde, das versank langsam im Schlamm und trieb damit ganze Generationen von Architekten in den Wahnsinn, denn jeder Versuch ein Fundament irgendwo im Untergrund zu verankern, erwies sich letztlich als fruchtlos. Ganz gleich wie viel Mühe, Sorgfalt und Planung auch aufgewendet wurde: War es aus Stein, wurde es irgendwann vom Sumpf geschluckt. Im Falle von Gebäuden führte das zu einem gewissen schulterzuckendem Pragmatismus: Jede Generation musste einfach das Dach abtragen, ein neues Stockwerk obenauf setzen und die tiefsten Keller aufgeben, die irgendwann selbst einmal ein Dachboden gewesen waren.
Was dagegen aus Holz gefertigt wurde, das fiel unvermeidlich eher früher als später der Feuchtigkeit zum Opfer.
Dieser Art war das Leben: Ein stetiger, langsamer Wandel und die immer präsente Erinnerung an die Vergänglichkeit alles Seins. Würden alle Menschen von einem Tag auf den anderen aus Rossensprung verschwinden, dann würde es keine 30 Jahre dauern, bis von ihrer vorherigen Präsenz nichts mehr zu sehen sein würde.

An diesem Abend hing auch Fel ähnlichen Gedanken nach, während sie ganz im Westen der Stadt über faulende Hängebrücken balancierte um die letzten windschiefen Katen zu erreichen. Die alte Hütte der blinden Seherin hatte das Schicksal ereilt, war gemeinsam mit einem Rest der alten Stadtmauer kollabiert und das hatte sie gänzlich in die Peripherie der Siedlung getrieben.
Alles änderte sich, nur Fel fühlte sich, als wäre sie kein Teil dieses Stroms, trieb so langsam, als wäre ein Anker an ihr befestigt, während alle anderen ihr Potential entfalteten und erblühten. Ludwig, der ihr für zwei Jahre ein getreuer, liebgewonnener Begleiter als geheimer Lehrling der Seherin gewesen war, hatte vor nunmehr Wochenfrist seine eigentliche Schusterlehre abgeschlossen und war nun ein Geselle, bereit mit Brief und Siegel seines Meisters in die Welt hinaus zu ziehen.
Nur, dass er nicht davon träumte ein Schuster zu werden: Ludwigs Wissen und Fähigkeiten im Umgang mit der Magie hatten das von Fel binnen Monaten überholt und nach zwei Jahren der Unterweisung hier am Rande von Rossensprung, stets in der Sorge, dass das strafende Auge des Gesetzes irgendwann aufmerksam werden würde, gab es für ihn nichts mehr zu lernen. Sich der Armee für fünf Jahre zu verpflichten, kam für Ludwig nicht in Frage und außerhalb der Grafschaft Auenstein würde man einem Magier ganz andere Möglichkeiten bieten.

‘Ich beneide ihn.’
Der Gedanke kam ungerufen, während Fel die letzte Planke überquerte und sich dann der Führung eines gespannten Seils anvertraute. Soweit draußen war es unvermeidlich, sich die Füße schmutzig zu machen, durch den zähen Schlamm zu waten. Es war gefährlich, von der durch das Seil vorgegebenen Linie abzuweichen: An manchen Stellen gab es regelrechte Löcher im Untergrund, unsichtbar durch das trübe Wasser, bis man hinein trat. Manche waren nur unbequem, durchnässten die Beinkleider und beschädigten die Würde. Andere konnten einen Spaziergänger im Nu verschlucken. Wie die meisten Anwohner Rossensprungs, hatte auch Fel nie gelernt zu schwimmen.. Rein theoretisch konnte die Magie ihr in einer solchen Situation zu Hilfe kommen, aber sie zweifelte, ob sie im Falle des Falles die notwendige Geistesgegenwart und Entschlossenheit aufbringen konnte, um die Panik zurückzudrängen und einen Zauber zustande zu bekommen. Von anderen logistischen Schwierigkeiten ganz zu schweigen. Besser also vorsichtig zu sein, jeden Schritt zu planen und sich nie allein der linken Hand anzuvertrauen, deren Finger niemals ganz ihre frühere Kraft und Geschicklichkeit zurückgewonnen hatten.

Im Alltag war das eine nur gelegentlich zu bemerkende Einschränkung, unbedeutend für die Arbeit im Kontor des Hauses Telketh, in dessen Gefolge sie vor nunmehr sechs Jahren nach Rossensprung gekommen war. Grauhafen war schöner, interessanter und vor allen Dingen trockener gewesen, aber diese Stadt hier hatte zwei sehr verschiedene Möglichkeiten geboten. Beide hatten sich auf ihre Art und Weise erfüllt: Im Laufe der Jahre waren Fels Aufgaben gewachsen, bis zu jenen einer vollwertigen Schreiberin, die ohne weitere Anweisungen Teile der Buchführung des Kontors erledigen konnte. Andere wurden vielleicht auch hier rascher befördert, aber sie kamen und sie gingen. Rossensprung war hart für jene, die den einfachen Luxus einer normalen Stadt gewohnt waren, nicht wenige entwickelten mit der Zeit einen hartnäckigen Husten oder eine nervöse Haut als Tribut an die immerwährende Feuchtigkeit.
Nach den sechs Jahren war Fel das am längsten hier arbeitende Mitglied des Handelshauses.

An den zweiten Vorteil, den die Umsiedlung nach Rossensprung mit sich gebracht hatte, dachte Fel ungern zurück, denn das gemahnte sie immer an eine Vergangenheit, die sie seit der Ankunft in dieser faulenden Stadt endgültig hinter sich zurückgelassen glaubte.

‘Aber so ist es nicht. Die Dinge verschwinden nur aus der Sicht, wie eine der aus Stein gefügten Mauern hier. Aber das bedeutet zunächst nur, dass man sie nicht mehr ohne Weiteres bemerken kann. Wer unaufmerksam ist, kann sich dennoch den Zeh daran stoßen.’

Der Gedanke - so beiläufig er eigentlich auch sein mochte - sorgte dafür, dass ihr Herzschlag sich beflügelte, die Stimmung mit dunklen Wolken driftenden Unbehagens füllte, bis sie endlich das Ende des markierten Pfades erreichte und damit auch eine kleine, zumindest halbwegs feste Insel inmitten der trügerisch ruhigen Brache. Von hier aus waren es kaum noch zwei Dutzend Schritt bis zum halb vermoderten, mittlerweile gänzlich von Moos und Krimmalgen überwucherten Rumpf einer hier aufgegebenen Barke und direkt daneben befand sich eine daran vertäute, schwimmende Plattform aus zusammengenagelten Brettern, jetzt besetzt von einer einzelnen, hockenden Gestalt, die in Richtung der Ankommenden spähte.

Trotz des trüben Zwielichts hatte Fel keine Schwierigkeit damit Ludwig zu erkennen, zu vertraut war seine Haltung. Viel hatte sich sonst in den letzten beiden Jahren verändert: Aus dem schlaksigen Jüngling war schon fast ein Mann geworden, der sie mittlerweile um einen halben Kopf überragte. Als sie sich neben ihn hockte, hatte sie keine Schwierigkeiten den dunklen Bartschatten auf seinen Wangen zu erkennen: Diese offene Rebellion hatte warten müssen bis zum offiziellen Abschluss der Schusterlehre. Die Veränderung hatte bereits begonnen. Und morgen würde er Rossensprung verlassen, vielleicht für immer.

Als hätte er diese Gedanken aufgefangen, lehnte Ludwig sich leicht zur Seite, eben weit genug, dass seine Schulter die der neugewonnenen Nachbarin berührte und hob die Stimme.

“In einem Jahr bin ich wieder zurück. Ich habe bereits alles durchgeplant, weißt du? Ich folge der Usser in Richtung ihres Oberlaufs, vorbei an Grauhafen, bis zur Grenze zwischen Auenstein und Siebensteig. Von dort aus komme ich mühelos weiter: Breitenbach ist dann der richtige Platz um einen neuen Lehrmeister zu finden. Ich erwarte ungefähr sechs Monate, vielleicht ein wenig schneller, wenn dein Vertrauen in mich begründet ist. Mit dem Beginn des Sommers werde ich dann einfach eines der Schiffe besteigen und hierher zur Mündung kommen, vielleicht reise ich sogar mit ein paar Flößern, was denkst du? Sie sind eine raue Bande, heißt es, aber überaus herzlich und ich denke, sie haben nichts gegen die Begleitung eines Magiers.”

Fel wollte widersprechen, darauf hinweisen wie abergläubisch solches Volk im Allgemeinen auf jeden Anwender von Magie reagierte, aber sie brachte es einfach nicht über das Herz. Nicht, weil Ludwig keine Korrektur vertragen hätte, sondern schlicht, weil er nur redete, um die Stille zu füllen, um die Decke von Wehmut abzuwehren.

‘Nichts bleibt. Alles ändert sich.’

Etwas wie ein Wellenschlag lief durch das Begreifen - für einen Moment war die Welt ganz fern, distanziert und unberührbar, in vollkommene Stille getaucht, durch die allein das Geräusch unbestimmbar ferner Atemzüge kroch. Gewaltig. Als würde ein Berg selbst seine Lungen füllen.

Fel erschauderte, sich zusammenduckend, während Ludwig den Kopf hob wie ein Jagdhund, dem eben gerade eine ganz eigenartige Witterung in die Nase gestiegen war. Warme Begeisterung fand Eingang in seine sich hebende Stimme:

“Hast du das gespürt Fel? Das war eine Störung im astralen Gewebe, darauf verwette ich meinen Gesellenbrief. Wie ein Reflex, ein Echo. Ich frage mich wirklich, was das ausgelöst hat. Kannst du dir überhaupt vorstellen, was das ausgelöst haben könnte? Irgendetwas.. Großes muss passiert sein!”

Und das, begriff Fel, war der eigentliche Unterschied zwischen ihnen beiden: Ludwig schaute erwartungsvoll in die Zukunft, zuversichtlich und entschlossen, bereit Wagnisse einzugehen und sich zu beweisen. Er würde an seinen Herausforderungen wachsen, während Fel blühte wie Nachtschatten: Verborgen und zurückhaltend, darauf wartend irgendwann von einer unbedachten Hand geknickt zu werden.

“Ich habe es bemerkt, ja. Und es muss etwas sehr starkes gewesen sein, dass wir es bis hierher spüren konnten. Myra wird fluchen: All ihre Tränke werden verdorben sein.”

“Dann lass sie fluchen! Sie ist ohnehin nie zufrieden. Komm, wir staken ein Stück tiefer in den Sumpf, bis zur Anhöhe der Glühwürmchen.”

Viele Stunden später schlich Fel sich im ersten Licht des neuen Morgen zurück in ihre Heimat. Erschöpft, wehmütig und dennoch von einer eigenartigen Zuversicht erfüllt. Sie würde auf Ludwig warten - ein Jahr war nicht so lang.

Wie von selbst schrieben ihre Finger jene Worte nieder, die seit dem Moment der Störung im Hintergrund ihrer Gedanken brodelten, gab den Silben Form und sich selbst damit Frieden.

Bislang hatte es Fel nur selten in den Südwesten Rossensprungs verschlagen, aber natürlich kannte sie all die Geschichten. Man konnte nicht Schreiber im Kontor eines Handelshauses sein, ohne das Geschwätz mitzubekommen und ohne seinen eigenen Teil dazu beizutragen. Und das war in gewisser Weise auch der Anlass für ihre Anwesenheit hier.

Ursprünglich war die Ansiedlung genau hier entstanden und dann entlang der vielen Arme der Usser gewachsen, den unsicheren, nachgiebigen Grund Stück für Stück erobernd. Oder zumindest für eine Zeitlang zähmend, denn eine wirklich finale Schlacht gab es in diesem endlosen Krieg einfach nicht: Jeder Tag aufs neue war ein Kampf gegen die allgegenwärtige Feuchtigkeit, gegen Schimmel und Fäulnis die gemeinsam Holz verschlangen und den Rost, der das Eisen zerfraß.

Die gepflasterten Wege in der Oberstadt standen gewiss in der Hälfte aller Tage eines Jahres mehr oder weniger tief unter Wasser. Das hatte zu einigen interessanten kulturellen Eigenheiten geführt: Schuhwerk wurde entweder überhaupt nicht getragen, oder in Form von kniehohen Lederstiefeln. Eleganz war einfach kein Faktor, der lange in solch widrigen Umständen überlebte.

Hier, abseits der gutbetuchten Viertel, gab es keine Wege dieser Art: Anwohner und Besucher gleichermaßen, balancierten über ausgelegte Planken, folgten teilweise auch nur gespannten Halteleinen, als hätten sie keine Sorge, dass der schlammige Untergrund sich jederzeit öffnen und sie verschlingen könnte. Für Fel war das nahezu unbegreiflich: Sie selbst hatte nie gelernt zu schwimmen und das traf auf den allergrößten Teil der Rossensprunger gewiss ebenfalls zu. Ein einziger Fehltritt konnte über Leben und Tod entscheiden.

Das tat dem regen Treiben auf dem Jahrmarkt keinen Abbruch: Unzählige Händler hatten hölzerne Plattformen herangeschafft und dort ihre Zelte aufgeschlagen, priesen nun lautstark Waren an, feilschten um jeden Groschen, während nur ein Stück weiter ein paar Akrobaten zur Begeisterung der Zuschauer mit Äxten jonglierten. Es wurde gekocht und gebraten, gespielt und gesungen, ein Stück weiter flogen Fäuste in einem Kampf, auf dessen Ausgang eifrige Wetten abgeliefert wurden.

An einem anderen Tag hätte Fel sich unter die Menge gemischt, ein Teil des Ganzen. Aber heute war ihr Ziel das fleckige Zelt ganz am Rande des Jahrmarktes. Irgendwann war die Leinwand gefärbt gewesen, darauf wiesen Spuren an den Nähten noch immer hin, aber selbst beim besten Willen war Fel nicht in der Lage, die ursprüngliche Farbe zu identifizieren. Was wie die halb verblassten Reste geheimnisvoller Siegel wirkten, konnte auch einfach getrocknetes Schmutzwasser sein, vielleicht Schimmel, der nie vollständig aus dem Gewebe gewichen war.

Drinnen herrschte ein Zwielicht, das bereits an Halbdunkel grenzte, das einzige Licht entstammte einem halbes Dutzend niedrig brennender Talgkerzen, deren scharfer Geruch sich mit anderen Akzenten mischte: Salbei. Knoblauch. Irgendein anderes Kraut, das Fel nicht zu identifizieren vermochte, aber dass ihr die Tränen in die Augen trieb und die Lunge zum Husten reizte.

“Willkommen. Ich bin Myra. Blind, wo andere sehen. Sehend, wo ihr blind seid. Was ist dein Begehr, Kind?”

Viel Platz war im Inneren nicht und der verfügbare Raum wurde von dem ovalen Tisch beherrscht, hinter dem die Seherin sich verschanzt hatte, wie hinter der Mauer einer Festung. Überall waren Kisten und andere Behälter aufgestellt, das Licht der Kerzen brach sich an einer Vielzahl an glänzenden Schmuckstücken aus Glas oder Zinn. Alles wirkte billig, heruntergewirtschaftet. In einigen Fällen war es leicht den Finger darauf zu legen: Der Tisch besaß nur noch ein einzelnes seiner ursprünglich gedrechselten Beine, die anderen Drei waren irgendwann durch minderwertige Stecken ersetzt worden, die ihren Dienst zwar erfüllten, aber jedem Gefühl für Ästhetik einen rücksichtslosen Dolch direkt ins Gesicht trieben.
An anderen Stellen waren die Zeichen subtiler.

“Ich bin Fel. Kommen nicht alle aus dem gleichen Grund hierher? Um etwas über ihre Zukunft zu erfahren?”

“Du wärst überrascht, Kind. Setz dich.”

Die alte Frau fixierte Fel aus milchig-trüben Augen - ein Blick, der gerade unfokussiert genug war, um warmes Unbehagen in ihr hervorzurufen. Vielleicht war es keine gute Idee gewesen, hierher zu kommen. Was auch immer der Volksmund murmelte, es war offensichtlich, dass diese Frau ein Scharlatan war, jemand, der seinen Lebensunterhalt mit der Dummheit anderer verdiente.

“Ich bin kein Kind. Und ich glaube nicht, dass du mir etwas sagen könntest, dass ich nicht bereits weiß.”

Und doch fand Fel sich dabei einen Platz auf dem wackeligen Schemel zu suchen. Letztlich hatte sie bereits all die Mühe auf sich genommen, um hierher zu kommen. Was konnten ein paar zusätzliche Minuten da schon schaden?

Die Alte ließ sich jedenfalls von der Herausforderung nicht stören, mischte mit noch immer geschickten Händen übergroße Karten, die irgendwann ebenfalls reich verziert gewesen waren. Die Feuchtigkeit hatte auch hier ihre Spuren hinterlassen. Schliesslich platzierte sie drei davon in der Mitte des ovalen Tisches, gerade auf halben Wege zwischen Fel und ihr selbst.

“Wen suchst du?”

Es war schwer, den ersten Impuls herunterzuschlucken, den Wunsch direkt mit der Frage herausplatzen. Das war etwas .. Neues, eine Schwäche, die mit den Jahren in der Sicherheit eines regulären Lebens erwachsen war. Es war leicht, sich an Vertrauensseligkeit zu gewöhnen, wenn man sich keine Gedanken um die nächste Mahlzeit oder um in der Dunkelheit lauernde Messer zu machen hatte.

Aber die Frage war gestellt und letztlich, tatsächlich auch der Grund für ihre ganze Anwesenheit hier. Die Gelegenheit nicht beim Schopfe zu packen würde Verschwendung sein.

“Meinen Vater. Gil Melethron. Der Name ist fast das Einzige, was ich über ihn weiß.”

In gewisser Weise, wurde Fel in diesem Moment bewusst, war der Name auch das Einzige, was von ihrer Kindheit geblieben war: Das Gesicht ihrer Mutter hatte im Laufe der Jahre an Schärfe verloren, soweit verblasst, dass selbst der verzweifelte Zorn letztlich in mürbe Resignation gereift war. Lia hatte nie aufgehört von ihm zu sprechen und sich dann irgendwann aufgemacht, um ihren verlorenen Geliebten wiederzufinden. Die drei Kinder, alle von verschiedenen Vätern gezeugt, blieben zurück, sich selbst überlassen.
Ihr ältester Halbbruder war nahezu genauso lange verschwunden, die anderen beiden schon längst in das kalte Zwielicht der Schattenwelt eingetaucht.

“Das ist kein Name, Kind.”

Die krächzende Stimme der blinden Seherin riss Fel zurück in das Hier und Jetzt.

“Bestenfalls ist es ein Kosename. der ungefähr die Bedeutung von ‘geliebter Stern’ hat. Deine Aussprache und Betonung sind jedoch furchterregend.
Willst du meinen Rat, Kind? Vergiss den Namen und höre auf, nach deinem Vater zu suchen. Es gibt Leidenschaften, die dich voranbringen und erfüllen, diese hier ist aber nur fruchtlose Vergeudung. Solche Dinge passieren. Ich vermute, dass dein Vater in seinem Volk selbst ein Ausgestoßener ist, verachtet für den leichtfertigen Umgang mit den Menschen. Es ist denkbar, dass du Dutzende von Halbgeschwistern hast, spitzohrige Bastarde, die nirgendwo wirklich willkommen sind.
Ich kann dir die Karten legen, wenn du von der Vergangenheit träumst, aber sie flüstern wenigstens auch von der Zukunft. Und wen kümmert schon, was gestern war?”

Für einen langen Moment schmerzte alles wie eine eigentlich schon lange vernarbte Wunde, aufgerissen durch eine unbedachte Bewegung.

‘Das ist, was ich bin. Nirgendwo wirklich willkommen.’

Die sich streckenden Finger berührten den verblassenden Rücken der ersten Karte, um sie dann zu wenden. Ganz beiläufig strich die Hand der Seherin einmal über die Fratze der abgebildeten Schreckensgestalt, bevor sie ihre Stimme hob.

“Der Dämon. Das ist deine Vergangenheit - ein Hinweis auf unerwartete Schwierigkeiten, auf Unglück oder Pech, die dein Schicksal an bestimmten Stellen umgelenkt haben in neue Bahnen. Auch wenn diese Karte ungern gesehen wird, ist sie nicht als solche negativ, vor allem in der Vergangenheit. Vermutlich ist ihr Einfluss nun abgeklungen. Zwei Karten nun für deine Gegenwart.”

Der Schmerz wandelte sich, vertraut wie die Dunkelheit am Ende jedes Tages und Fel folgte der Weisung der Seherin, um zwei weitere Karten umzudrehen. Dieses Mal realisierte sie, dass die Alte die Karten allein durch ein beiläufiges Tasten zu erkennen vermochte.

“Der Mond und die Sonne. Das .. ist eine sehr interessante Kombination. Die Gegenwart besteht in diesem Legemuster immer aus zwei Teilen: Der Wirklichkeit und dem Traum. Der Mond ist deine Wirklichkeit: Er steht gewöhnlich für Einsicht und Selbsterkenntnis, auch Nachdenklichkeit und Intuition. Die Sonne repräsentiert den Traum, das, was du willst: Schaffenskraft und Freude. Licht schaffen und Wärme.
In der Art und Weise, wie sie hier zusammenstehen, sind sie sehr viel wörtlicher zu verstehen, Kind. Du wärst gern jemand. Aber dir fehlen der Mut und die Fähigkeiten. Du bist eifersüchtig, neidisch und das prägt deinen Alltag. Vergangenheit und Gegenwart sind benannt.”

Die Alte mischte alle offenen Karten zurück in den Stapel, ihre Finger bewegten sich mit einer Routine, die auf jahrelange Erfahrung schließen ließ. Die Frau mochte blind sein, aber das tat ihrer Geschicklichkeit keinen Abbruch und nach einer endlos anmutenden Minute breitete sie schliesslich drei verdeckt liegende Karten vor Fel aus.

“Das ist der wahrscheinlichste Pfad deiner Zukunft. Eine Karte beschreibt das Schicksal. Eine zweite beschreibt, was dir dabei hilft. Die dritte schliesslich ist das größte Hindernis auf deinem Weg. Deck auf.”

“Woher weiss ich, welche der drei für was steht?”

Die alte Seherin lachte nur, anerkennend und gutmütig.
“Das ist fast die beste Frage die ich in diesem Zelt in diesem Jahr gehört habe. Nun decke auf, Kind. Ich werde es für dich erläutern.”

Dieses Mal gehorchte Fel und deckte die drei Karten nacheinander auf.

“Der Gehängte. Der Magier. Der Stern.”

Ein zweites Mal wurden die erste und die letzte Karte befüllt, als wäre die Seherin selbst überrascht davon, was das Schicksal offenbarte.

“Interessant. Ich habe selten eine so klare Kombination gesehen: Deine Zukunft ist der Stern: Du wirst dein Glück, deine Bestimmung finden. Der Stern ist ein machtvolles Zeichen der Hoffnung und Erfüllung. Interessanterweise steht er auch für das Elfenvolk. Das ist überaus gut und könnte bedeuten, dass du letztlich auch hier dein Schicksal findest.
Dir zur Seite steht dafür der Magier, dessen Anleitung und Weisung dich auf den richtigen Weg bringt. Hüten musst du dich vor dem Gehängten, der hier fast schon wortwörtlich genommen werden muss: Das ist das argwöhnische Auge des Gesetzes, das alles verderben kann, was dir der Stern verheißt.”

Fel konnte den plötzlichen Enthusiasmus der Alten nicht teilen: Das alles roch ein wenig zu sehr wie ein billiger Trick, wie etwas, das sich jemand mit dem Geschick der Alten und ihrer Fähigkeit Karten offenbar mit einer Berührung zu identifizieren, ausdenken konnte. Fast noch wichtiger: Beim Starren auf die drei Karten und die dort zu sehenden Gestalten fühlte sie regelrecht die Disharmonie. Vielleicht war die Reihenfolge einfach nicht korrekt.

“Ich kenne nur einen einzigen Magier und der ist zu arrogant, um jemandem wie mir auch nur einen Seitenblick zu gönnen.”

“Jemandem wie dir, Kind? Wir sind in Rossensprung, daher darf man solche Dinge nicht laut ausspreche, aber ist dir nicht bewusst, was dein Erbe bedeutet? Du trägst diese Gabe in dir. Du brauchst nur die Hilfe eines anderen Magiers, um diese Möglichkeiten für dich zu öffnen, jemand, der dich schult - möglichst vorbei am wachsamen Auge des Gesetzes, das alles verderben kann.”

Die knorrigen Finger der Seherin tippten ganz beiläufig auf das Abbild des Gehängten.

“Lass mich dir von einer Möglichkeit erzählen, Kind. Aber ich sehe bereits, wie die Zukunft dabei ist sich zu entfalten.”


Jahre später, im Bauch eines schaukelnden Schiffs, schrieb Fel die Erinnerung an dieses erste Zusammentreffen mit der alten Seherin nieder, die ihre erste Lehrmeisterin werden würde.

“Ich spürte es schon damals. Die Diskrepanz. Ich bin mehr als je davon überzeugt, dass sie die Karten bewusst in diese Reihenfolge brachte, um mich als Schülerin zu gewinnen. Aber es bleibt dieser Zweifel: Was, wenn da etwas war? Mehr als nur ein Taschenspielertrick? Ich kann nicht aufhören darüber nachzudenken, wie die richtige Reihenfolge der Karten ist. Ich kann die Erinnerung nicht abschütteln an dieses Zusammentreffen mit Ludwig. Es gibt eine Wahrheit dahinter, die noch darauf wartet mir ins Gesicht zu springen.”

Der große Markt im Südwesten von Rossensprung hatte sich über die Jahre hinweg nicht geändert. Gewiss, die Zelte wechselten und damit auch die dominierenden Farben, aber noch immer war er geprägt von den halb schwimmenden Holzplattformen und den unzähligen zeitweiligen Brücken, die dazwischen geschlagen worden waren. Es gab, so sinnierte Fel, während sie sich zwischen einigen wild gestikulierenden Interessenten für die Ware eines Töpfers hindurchdrückte, nur voller als zu anderen Zeiten. Das war keine Folge eines weiteren wirtschaftlichen Aufschwungs, sondern Ausdruck der unsicheren Zeiten: Die langen Spannungen zwischen Auenstein und Siebensteig hatten sich einmal mehr in einen offenen Konflikt entladen, das ganze Land entlang der Usser schien in Waffen zu stehen und es gab keinen Tag an dem sich am Horizont nicht qualmende, dunkle Rauchwolken ausmachen ließen.

Dennoch: Rossensprung war so weit von der Front entfernt, wie überhaupt nur möglich, der einzige echte Überseehafen von ganz Ussaria. Kein Wunder also, dass es Flüchtlinge und Opportunisten gleichermaßen in die Stadt trieb.

Die immerwährende Unstetigkeit der treibenden Plattformen war eine Konstante, mit der die Anwohner Rossensprung mit der Zeit zu leben lernten, aber es erforderte Zeit und Gewohnheit. Selbst gestandene Seeleute, eigentlich an unsicheren Boden unter den Füßen gewohnt, fluchten über den abrupt ruckelnden Grund und hier, gerade vor dem Stand eines Kesselflickers, der eine ganze Auswahl hübscher kupfergetriebener Töpfe und Pfannen ausgestellt hatte, kämpfte nun ein Halbdutzend Matrosen mit dieser Unbille. Einer von ihnen war, vertieft in Austausch mit seinen Kameraden, gegen Fel getaumelt, die zuvor in seiner Hand gehaltene Kanne war zu Boden gefallen und ein kleines Stück gerollt, bis der Fuß eines Anderen sie aufhielt.

“Pass auf, wo du deine verdammten Füße hinsetzt, Spitzohr!”

Der erste Instinkt war den Kopf einzuziehen, sich kleiner zu machen und in der Menge unterzutauchen. Der Konfrontation ausweichen, die gewiss keinen Gewinn, sicherlich aber unerwünschte Aufmerksamkeit bringen würde. Stattdessen biss sie die Zähne zusammen und wandte sich um, fixierte den erzürnten Mann. Die eben noch erhobenen Fäuste wurden widerwillig gesenkt, als er die Uniforminsignien auf der Brust identifizierte und Fel konnte einen Ablauf allzu vertrauter Gedanken über sein Antlitz huschen sehen: Der cholerische Ausbruch war bereits dabei abzukühlen und machte Raum für zwei wesentlich kühlere Beobachtungen. Das Spitzohr war nicht nur eine Frau, sondern zu allem Unglück auch noch Teil der ohnehin bereits angespannten Streitkräfte Auensteins. Und der Mann war noch lange nicht betrunken genug, um diese Hinweise zu ignorieren. Drei, vier Sekunden währte das gegenseitige Starren, bevor der Matrose sich nach seiner Kanne bückte und dann mitsamt seiner grinsenden Begleiter die kleine Plattform verließ. Er würde sich, dessen war Fel sicher, über Tage hinweg den Spott anzuhören haben.

“Fel?”

Die Stimme war schmerzhaft vertraut, auch wenn sie anders klang als beim letzten Zusammentreffen vor nunmehr bald zwei Jahren. Die eine Silbe war genug um heissen, längst begraben geglaubten Schmerz in der Brust wieder aufflammen zu lassen. Was war aus den damals ausgetauschten Versprechen geworden?

‘Nichts.’

“Ludwig.”

Der ehemalige Schusterlehrling hatte sich verändert und das in fast allen auf den ersten Blick zu fassenden Eigenheiten: Jetzt überragte er Fel um mehr als einen Kopf, die vormals glatt rasierten Wangen verschwunden nun beinahe unter den sorgsam gestutzten Formen eines kurz getragenen Vollbarts. Die nervöse Unruhe, die in den Jahren der Lehre unter der blinden Seherin eine markante Eigenheit gewesen war, hatte sich in selbstbewusste Zuversicht gewandelt, unterstrichen durch die geschmackvolle Wahl an Kleidung, die keinen Zweifel an der gewählten Berufung ließ.

“Ich sehe du hast einen Lehrmeister gefunden. Meine Glückwunsche.”

Da war der Schmerz in den Augen, das fast unmerkliche Zusammenzucken, bevor die Haltung sich wieder begradigte, die verlorene Fassung mit einer Schnelligkeit zurückgewonnen wurde, die Fel in gleicher Weise beeindruckte und betrübte.

“Ja. Nicht alles lief, wie ich es mir vorgestellt hatte, aber ich fand einen Meister und wurde einer von sieben Lehrlingen. Es waren aufregende, lehrreiche zwei Jahre für mich und ich bedaure nur, dass ich nicht eher die Möglichkeit hatte, nach Rossensprung zurückzukehren.”

Er zögerte für einen Moment, ausreichend, dass sie sich einmal mehr der eigenen Erscheinung vollkommen bewusst wurde.

“Du hast dich nicht verändert, Fel.”

“Das ist eine Lüge, Ludwig, aber ich nehme es.”
Zwei Finger berührten die Insignien der Uniform direkt über der Brust - das geöffnete dreistrahlige Auge in Bronze und direkt daneben die geschwungene Linie. Für das geschulte Auge verriet das erste ihre Zugehörigkeit zur Profession der Magier, das zweite den Rang als Fähnrich in der Auensteiner Armee. Das früher üppig getragene Schopfhaar war mit der zwangsweisen Verpflichtung in die Streitkräfte der Grafschaft kurzgeschorenen worden, aber mit dem Ende der regulären Rekrutenzeit waren die Regeln nicht mehr so streng. Es fiel dennoch noch nicht lang genug, um die leicht gespitzten Ohren zu verdecken.

“Ich war in der Brache. Von Myras Haus gibt es keine Spur mehr. Ich habe gehört, was ihr passiert ist.”

In diesen einfachen drei Sätzen hörte Fel eine ganze Anzahl von Fragen, zusammengepresst auf die Form dieses simplen, fast neutralen Geplänkels.

“Sie haben uns erwischt, ungefähr ein halbes Jahr nach deinem Weggang aus Rossensprung. Irgendjemand hat sich ein Kopfgeld verdient und ist hoffentlich daran erstickt. Du weisst, wie die Regeln sind: Ich bekam die fünf Jahre Dienstverpflichtung im Austausch für eine Ausbildung. Myra ..”

Fel ließ den Satz unvollendet: Ludwig kannte die Regeln ebenso gut wie sie selbst.

“Ich war seitdem nur ein einziges Mal wieder in der Brache. Es sind keine schönen Erinnerungen mehr.”

Die Plattform schwankte unter dem Gewicht anderer Marktbesucher, die kurzzeitig geschlagene Lücke in der lärmenden Gleichförmigkeit war rasch wieder geschlossen worden.

“Warum bist du zurückgekommen, Ludwig? Im ersten Jahr war ich voller Hoffnung, malte mir aus, wie du zurückkommen und mir von der Welt erzählen würdest, von deinen Abenteuern und den Dingen, die du gelernt hast. Anfang des zweiten Jahr fühlte ich mich bitter: Betrogen und vergessen, zurückgelassen in einem Elend, gefangen zwischen Mühlsteinen, die stetig darauf aus waren - und es noch sind - mich zwischen sich zu zermalmen.
Aber ich verstehe, Ludwig. Alles verändert sich, nur ich fühle mich manchmal, als wäre ich davon ausgenommen, ein Beobachter, der sich im Sumpf verirrt hat und alle anderen an sich vorbeieilen sieht. Sieh dich an: Ich kann dich kaum wiedererkennen. Du bist deinen Schuhen längst entwachsen, ein Mann, wo ein Jüngling damals aufbrach. Warum bist du zurückgekommen?”

Da war der Schmerz wieder, die Schuld zwischen der zur Schau getragenen Selbstsicherheit und Fel spürte eine bittersüße Befriedigung bei der Beobachtung, eine vorwurfsvolle Genugtuung, die schon an Rachsucht grenzte.

“Ich habe viel gelernt Fel. Ich weiss nicht, was sie dir in der Armee beibringen, aber ich bin sicher, es kann nicht viel sein. Ja, ich bin viel zu spät, aber das ist der Unterschied zwischen törichter Planung und der Erfahrung, die man draussen im Leben macht: Die Dinge sind nie so einfach, wie sie erscheinen. Ich kam, sobald es mir möglich war. Und ich habe dich nicht vergessen. Wenn du willst, können wir schon diesen Abend fort sein aus Rossensprung, unterwegs. Niemand wird dich finden, niemand wird dich entdecken. Ich kenne genau die richtige Magie dafür.”

Einen Moment lang vermochte Fel nicht zu atmen, ein Gefühl wie von Eiswasser in ihren Adern brachte alle Glieder zum schütteln und die Zähne zum klappern. Ein Teil von ihr, gut behütet unter dem Alltag allzu pragmatischer Lehre, krümmte sich wie ein waidwund geschossene Fähe in plötzlichem, atemlosem Grauen.

“Der Gehängte. Der Magier. Der Stern.”

“Was heißt das?”

Das war eine Geschichte, die Fel ihm niemals anvertraut hatte: Die Details ihres ersten Zusammentreffens mit der blinden Seherin waren immer verborgen geblieben, gehütet wie peinliche Anekdoten der Kindheit, die in gut gesicherten Schubladen verstaubten. Also schwieg sie, zu sehr damit beschäftigt nicht einfach zu flüchten, um eine Antwort geben zu können.

“Habe ich etwas Falsches gesagt, Fel?”

“Nein.”

Das Entsetzen verflog, auch wenn das Herz weiterhin gegen die Brust hämmerte, der schwere Uniformstoff nun zusätzlich noch klamm durch schweisskalte Feuchtigkeit. Ein Teil von ihr erkannte ganz kühl, dass die Panikattacke vorbei war und fragte sich befremdet nach dem Grund dafür, ohne eine Antwort zu finden. Etwas an der Formulierung Ludwigs musste einen Zusammenhang hergestellt haben zu den vor Jahren gelegten Karten der Seherin. Aber was, das blieb dem rational ausgreifenden Verstand schleierhaft.

“Nein. Das Risiko ist zu hoch. Für dich. Für mich. Wir sind keine Kinder mehr - ich schon lange, du seit mindestens einem Jahr. Und ich denke an den allermeisten Tagen benimmst du dich auch so. Du hast etwas aus dir gemacht - gut! Ich habe immer gewünscht, dass du aus diesem Loch entkommst. Aber das werde ich auch, spätestens wenn meine Zeit um ist. Und dann will ich diese Stadt hoch erhobenen Hauptes zurücklassen, noch ein letztes Mal in das Hafenwasser spucken, um dann nie mehr hierher zurückzukehren.”

Für lange Momente stand Ludwig nur wie vom Schlag getroffen, die Maske welterfahrener Nonchalance fortgewischt und gegen eine Mischung aus Überforderung, Schmerz und schlechtem Gewissen ausgetauscht. Und, wie Fel nicht ohne eine gewisse bittere Zufriedenheit bemerkte, auch ein Quäntchen von Erleichterung.

Als er ging, war es wie eine Flucht, eilig, noch immer mit der durch lange Jahre erworbenen Sicherheit bei der Bewegung über schwankende Planken und driftende Plattformen hier im sumpfigsten Teil Rossensprungs. Manche Eigenheiten blieben erhalten, selbst wenn sie nicht mehr benutzt wurden, wartend und schlummernd, bis die Notwendigkeit wieder nach ihnen rief.

Fel starrte ihm nach, bis seine Gestalt im Alltag verschwunden war, selbst der Lärm wie eine Decke, die sich über alle allzu betäubenden Gedanken legte.

‘Das ist es eben. Nichts bleibt wie es ist. Darauf zu hoffen, ist töricht. Darauf zu vertrauen ist Selbstmord.’

“Was ist nun? Wollt ihr es kaufen? Ich habe auch noch andere Interessenten.”

Die Nachfrage des Mannes hinter dem Stand mit all den blank polierten Kupferteilen erinnerte Fel an den eigentlichen Grund ihrer Anwesenheit hier: Mitten in der bunten Mischung aus Töpfen und Tiegeln, Messern und Gabeln, kleinen Dosen, einem Käfig, verzierten Tellern und grösseren Platten, befand sich auch eine kleine, kaum mehr als fingerlange Statue. Elfische Handwerkskunst hatte der Mann ihr hoch und heilig versichert. Von seinem Großvater erworben und weitergegeben an den Vater als Glücksbringer, nun in Anbetracht der Umstände aber dennoch zu einem günstigen Preis abzugeben.

‘Höchstwahrscheinlich eine Fälschung.’

Also solche würde sich die kleine Figur nur zu der Sammlung anderer kleiner Kinkerlitzchen gesellen, die Fel im Laufe der letzten Jahre angesammelt hatte. Sie alle verband ein vermeintlich elfisches Erbe, sie alle waren günstig genug gewesen, um für ihre äußerst beschränkten Mittel greifbar zu sein.

‘Nur sie sind ewig. Unveränderlich wie die Sterne selbst. Warum muss ich hier festsitzen?’

Nicht viel später war sie auf dem Rückweg in die Kaserne, die kleine, vermeintlich elfische Statue gut behütet in der Tasche.

Die Insel der Nebel ist der Tutorialbereich von DNW, eine vom eigentlichen Spielgeschehen isolierte Insel. Obwohl alle Elfenvölker frei erstellt werden können, sind Halbelfen aber kein frei verfügbares Volk. Das bedeutet: Um Fel tatsächlich ins Spiel bringen zu können, musste ich einen entsprechenden Antrag stellen. Dieses Interludium entstand während der Wartezeit.
Da die Insel der Nebel nicht tatsächlich existiert - es ist eben nur ein Tutorialbereich - können die dort gemachten Erfahrungen nicht ins Spiel einfließen.


In der gleichförmigen Stasis dieser Insel ist die Ankunft anderer Reisender die einzige Abwechslung, die einzige Abweichung von einer täglichen Routine. Selbst das ist, wenn man es korrekt betrachtet, gleichbleibend: Ihr Kommen und ihr unvermeidliches Gehen ist zwar unregelmässig aber doch vorhersehbar: Sie alle ziehen weiter.

Ich erinnere mich noch an die Aufregung des ersten Tages, gleich gefolgt von der Erleichterung direkt nach der Ankunft, an deren Details ich mich nicht erinnern kann. Das ist etwas, was mich mit den allermeisten der Reisenden verbindet: Eine bestimmte Ungewissheit, über die Art und Weise wie dieser Ort erreicht wurde. Selbst jene die voller Überzeugung davon berichten, wie sie von einem Schiff hier abgesetzt wurden, verdrängen vielleicht einfach die Realität, denn ich habe abgesehen vom Fährmann niemals jemanden hier angelegen sehen. Und - um korrekt zu sein - nicht einmal diesen. Er liegt einfach jeden Morgen aufs Neue vor Anker, unvermeidlich wartend wie das finale Schicksal.

In diesen ersten Tagen war ich dankbar für mein Leben und stellte nicht zu viele Fragen, aber je länger ich hier verweile, desto mehr Zweifel verdichten sich zu schweren Klumpen in meinem Hinterkopf: Was ist das für ein Ort? Was bedeutet meine Anwesenheit hier?

Meine im Moment bevorzugte Theorie habe ich nach vielen Gesprächen mit anderen Reisenden herausgeformt: Ich denke diese Insel ist kein echter Ort, sondern eine geteilte Traumrealität, ein unechter Platz, den jene erreichen, die gerade bei sind ihr Leben zu verlieren oder ihren letzten Atemzug bereits getan haben.
Es ist ein Ruheplatz um sich zu sammeln, um Frieden zu schließen. Wer dann bereit ist für die Weiterreise, der vertraut sich dem Fährmann an, der keine Bezahlung verlangt und niemals jemanden hierher zurückgebracht hat.

Ich fürchte seine Verlockung genau wie die hölzernen Planken seines Schiffes. Und wer will es mir verdenken?
Ich sah, wie die Magie sich verformte, verdrehte, wie die Realität selbst aus der Fuge zu geraten schien. Was Holz war wurde zu Luft, was Metall war, transformierte zu Wasser. Mir ist selbst jetzt unbegreiflich, auf welche Weise das passierte, welches Prinzip dahinter steht. Es passt zu keiner der Lehren, die mir nahegelegt wurden.

Was fange ich also an mit den Tagen, die alle gleich beginnen und nahezu identisch enden? Weniger, als ich sollte.

Ich habe meine bescheidenen Fähigkeiten bemüht um zu prüfen, ob sie irgendwelche permanenten Veränderungen durchlaufen haben, aber das scheint nicht der Fall zu sein, denn die mir bekannten Zauber funktionieren wie immer, die Grundprinzipien scheinen identisch soweit es sich durch mich beurteilen lässt.
Ich habe Notizen hinterlegt, flüchtig bislang nur: Zu den verschiedenen Gebäuden, zu den Personen hier, zum Fährmann und auch zu den anderen Reisenden.

Vielleicht sollte ich all das ein wenig ordnen. Vielleicht ist es genau das, was ich brauche um jenen Ruhepunkt zu finden, den ich benötige, um mich dem Fährmann anzuvertrauen.
Aber ich kann nicht aufhören mich zu fragen: Was wenn meine ganze Existenz nur ein eingefrorener Moment ist, der sich in dem Moment auflöst, in dem ich mich entschliesse weiterzuziehen?

Ich erinnere mich nicht mehr genau, was das Erste war, dass mein Misstrauen erregte, aber ich glaube es waren die Bewohner dieser Insel. Damit meine ich nicht die Reisenden, die allesamt - genau wie ich - auf irgendeine Weise hier ankamen und - anders als ich - nicht viel später dann auch schon der Verlockung des Fährmanns folgen und die Weiterreise antraten.

Der Kontakt war .. glaubhaft, die oberflächlichen Gespräche die man eben so führt, wenn man an unbekannte Gestade gespült wird mit nicht mehr als ein paar Fetzen am Leib, genau das was man eben erwartet. An jenem ersten Abend war ich zufrieden zumindest einen provisorischen Schlafplatz ergattert zu haben. Ich will nicht behaupten, dass ich glücklich war, aber die Sorgen und das Bedauern sollten erst in den Wochen danach allmählich Einzug halten, vertraut in ihrer kühlen Hartnäckigkeit. Aber damals war ich froh noch am Leben zu sein. Fragen konnten warten.

Der Katzenjammer kam mit dem nächsten Morgen, mit der klaren Einsicht, dass mein bisheriges Leben ein abruptes, ungeplantes Ende erfahren hatte. Meine Verpflichtungen, meine Aufgaben, meine dünnen Freundschaften und vor allem auch mein Lehrmeister: Einfach davongewischt wie ein unbedeutendes Staubkorn auf einer nun in Ordnung gebrachten Tischplatte.
Während die Sonne gemächlich aufging und die Insel mit Farben und Wärme füllte, realisierte ich, dass ich zum ersten Mal seit meiner Flucht aus Breitenbach wirklich allein war. Wohin ich von hieraus auch aufbrechen würde: Niemand würde meinen Namen kennen. Niemand die Umstände meines Aufwachsens, niemand die ungetilgte Schuld.

Das war ein eigenartiger, machtvoller, wenn auch bittersüßer Gedanke: Ich hatte die Möglichkeit mich selbst neu zu erfinden.

Jetzt, Wochen später, stelle ich fest, dass der Käfig etwas ist, was man mit sich trägt und selbst ein Schiffsuntergang wischt ihn nicht einfach fort. Es ist so leicht, so verführerisch in vertraute Gewohnheiten zu fallen, die über die Jahre wie Atemzüge wurden: Unwillkürlich und vertraut.

Aber ich schweife ab.
Es brauchte drei Tage bis ich wirklich verstand, dass die Bewohner dieser Insel sich nicht an mich erinnerten: Wenn ein Tag neu anbrach, dann waren sie selbst wie erneuert, aller Eindrücke der vorherigen Stunden beraubt. Erst mit dieser Beobachtung verstand ich, dass es nicht nur die Bewohner waren, sondern die ganze Insel: Welche Spuren ich auch hinterlassen hatte, sie waren verblasst, sobald der neue Tag begann.

Da verstand ich: Das hier ist kein echter Ort.
Und damit kamen auch die Zweifel: Was bin ich dann?

Was bin ich?

Ein verwirrter Traum, der sich gerade auf der Schwelle zwischen Schlaf und Erwachen wälzt, unfähig das Eine oder das Andere zu umarmen?

Die letzten Gedanken einer Sterbenden, die in nachtblauer Tiefe einem eiskalten Grab am Boden der See entgegensinkt?

Die Reste einer Seele, die die Schwelle bereits überschritten hat und nun nur noch darauf wartet das Urteil zu akzeptieren, Frieden zu machen mit sich, bevor sie bereit ist für die Weiterreise an einen Ort von dem noch niemand zurückgekehrt ist?

Jeder Morgen verspricht mir aufs Neue: Nein. Das ist ist normal. Du hast überlebt. Sieh dich um und sammle, erhole dich, bevor du weiterziehst.
Aber ich kann die Augen nicht davor verschliessen, wie ich das gleiche Gespräch ein weiteres Mal mit der Frau hinter dem Tresen in der kleinen Markthalle führe, wieder die gleichen Anekdoten vernehmend, die ich bereits zwei Dutzend Mal vernommen habe. Sie sind mir bald so vertraut, wie die Stationen meines eigenen Lebens und ich lächle pflichtschuldig, während ich ein weiteres Mal um Material handle. Tinte. Papier.
Es wird höchste Zeit, dass ich mich aufraffe, das Beste aus diesem Ort hier mache, Hausaufgaben erledige, die schon viel zu lange darauf warten, abgeschlossen zu werden.

Der Anlass für diesen Entschluss war fast schon banal: Das Zusammentreffen mit einem Reisenden, der die Magie gerade erst zufällig für sich entdeckt hatte und nun mit der staunenden Zuversicht eines Welpen den Vorgaben in dem zerfledderten Buch folgte. Mir fehlen die Worte, um genau zu beschreiben, wie ich mich fühlte, als er Reagenzien zerrieb, Worte rief und eine Wirkung manifestierte, als wäre es gar nichts. Einfach so.
Aber ich kann mir vorstellen, dass ich gelb im Gesicht wurde vor Eifersucht und Neid. Welches Recht hatte dieser Mann ohne die geringsten Studien, ohne Stunden über Stunden an Meditation und erschöpfenden Übungen einen solchen Effekt einfach aus dem Ärmel zu schütteln? Wo war die Gerechtigkeit dabei?
Der Gedanke riss mich aus dem schäumenden Selbstmitleid - die Erinnerung daran, wie Jerwalson mich für eine sehr ähnliche Frage höhnisch verlacht hatte, war auch jetzt, Jahre später, noch wie eine nicht verheilte Wunde.

Keine Gerechtigkeit für mich.

Aber dieses Zusammentreffen war ausreichend, um den Entschluss in mir reifen zu lassen, meine gesammelten Kenntnisse einmal zu ordnen, zu prüfen, sie niederzuschreiben. Meine eigenen Notizen, die - hoffentlich - mit mir gemeinsam wachsen würden.

Selbst wenn ich nur ein zuckender Gedanke kurz vor dem Verlöschen sein sollte.
Mehr Licht!

'Mach die Augen auf.'

Ein neuer Tag. Eine vertraute Routine. Es ist eigenartig, wie präsent die stetige Gleichförmigkeit dieser kleinen Insel wird, wenn einem diese Eigenheit erst einmal bewusst geworden ist. Wieviele Monate meines Lebens habe ich mit eintöniger, langweiliger Arbeit verbracht ohne mich über gewöhnlichen Groll hinaus zu beschweren? Wenn ich ehrlich mit mir selbst bin, dann kann der Unterschied zu meinem Erlebnis hier nicht besonders groß gewesen sein: Immer der gleiche Tagesablauf, feindselige oder gelangweilte Blicke von Fremden, bestenfalls vom Sehen vertraut.
Dazu ein Gewicht, dass es hier nicht gibt: Wenn ich meiner Verärgerung hier freien Lauf lasse und der geizigen Kräuterhändlerin meine Meinung geige, wird sie mich am nächsten Tag doch begrüßen, als hätte sie mich noch nie vorher gesehen. In gewisser Weise, denke ich, dass exakt das auch der Fall ist.

Jerwalson, daran hege ich keinen Zweifel, wäre enttäuscht und das ist ein Gedanke der mich mehr bedrückt, als er sollte. Der Mann war mein Lehrmeister, aber kein Freund. Niemand, dem ich mich anvertraut hätte über die Alltäglichkeiten der Ausbildung hinaus. Er trug, denke ich, die Uniform mit noch mehr Verachtung als ich. Ein weiteres offenes Rätsel, eines, das nun nicht mehr drängt und vermutlich nie gelöst werden wird.

All das ist Vergangenheit. Ich sollte froh sein über diese Herausforderung. Die Wahrheit ist, dass ich jeden Tag ein wenig entnervter erwache, mich in meiner eigenen Routine festbeisse: Muscheln sammeln, die Beete bestellen, Gemüse verkaufen und gegen Reagenzien, Tinte und Papier eintauschen. Und dann schreiben: Es ist frappierend, wieviel ich bereits vergessen habe: Ich bekomme den Enigmatischen Dualismus Jerwalsons kaum noch zur Hälfte zusammen: POR und ZAN als Gegenstücke, aber stand NOX nun gegensätzlich zu XEN oder MANI? Es ist genau wie vor einem Jahr: Je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger habe ich den Eindruck davon zu verstehen. Das System, was er darin sah - oder vorgab zu sehen - erschließt sich mir einfach nicht.

Vielleicht morgen. Ich habe das Gefühl ich bin reich an Tagen.

'Sieh dich um.'

Es ist eigenartig, wie mit den Jahren manche Erinnerungen vollkommen ausgewaschen sind, dünner und fadenscheiniger noch als die von der Armee Auensteins gestellte Unterwäsche. Andere dagegen haben ihre Leuchtkraft bewahrt, oder - wie Jerwalson stets zynisch bemerkte, wann immer sich Gespräche in diese Richtung entwickelten - sie haben sich allmählich verwandelt und erwecken damit fälschlich einen Anschein von Authentizität.

Ich denke noch immer, dass er sich darin irrt, dass es Eindrücke gibt, deren Wahrhaftigkeit mühelos dem Zahn der Zeit widersteht, so prägend und machtvoll, dass sie selbst nach Jahrzehnten nichts von ihrer Schärfe verloren haben. Ich wünschte ich könnte das Gesicht meiner Mutter dazuzählen, aber wenngleich ich mich mühelos an ihre letzten Worte an mich erinnern kann, ist ihr Gesicht selbst ins Vergessen geraten.

Ich erinnere mich auch an die Trauer, an den Schrecken, an das Gefühl von Schuld und Verrat. Sie ging um einem Traum nachzujagen, auf der Suche nach ihrem Geliebten, der - wie ich sehr viel später erfahren sollte - nicht einmal seinen richtigen Namen genannt hatte. Mein Vater.
An manchen Tagen frage ich mich, wie weit weit ihre Suche sie gebracht hat, ob sie vielleicht noch immer irgendwo da draussen ist. Ob es eine neue Familie gibt, andere Halbgeschwister, die den Luxus hatten mit einer Familie aufzuwachen.

Ein Vierteljahrhundert ist verstrichen und vielleicht hat sie ihr Glück gefunden. Aber ein Teil von mir, der sich in der Erinnerung an diese ersten Tage zusammenduckt und unzulänglich fühlt, hofft, dass sie noch immer wandert und sucht, vergeblich von einem Ort zum anderen treibend, wie ein welkes, schon lange dem Baum entrissenes Blatt.

Ich sollte einen ähnlichen Groll auch gegenüber diesem Fremden hegen, diesem umherziehenden Elfen. Aber ich habe ihn nie kennengelernt, es gibt keine Erinnerungen, an die ich meine Gedanken heften kann. Aber ich denke auch er ist noch irgendwo da draussen, alterlos wie alle seines Volkes.

Alterlos.
Wie diese Insel, wo jeder Tag seinem Vorgänger gleicht. Ich habe mich begonnen zu fragen, ob es hier ohne Reisende überhaupt Tage gibt. Oder: Ob das hier überhaupt existiert ohne einen Besucher. Wenn ja: Wird irgendwann jemand nachsehen, warum ich hier verweile ohne mich dem Fährmann anzuvertrauen? An manchen Abenden habe ich das Gefühl von unsichtbaren Geistern angestarrt und verurteilt zu werden, namenlosen Schemen aus Quecksilber, die sich zwischen den Schatten bewegen.

Jerwalson würde lachen und lästern. Aber ich kann den Schauder nicht abschütteln, der mich in diesen Momenten überfällt.

Die Gleichförmigkeit der Insel lädt dazu ein sich treiben zu lassen und jeden Morgen, direkt nach dem Erwachen, gebe ich diesem Gefühl nach, bleibe liegen und lausche mit geschlossenen Augen auf das Geschrei der Vögel, auf das Plätschern des Regengusses, der sich zuverlässig jeden Morgen einfindet und auch auf Gespräch der beiden Händler, das ebenfalls immer gleich abläuft. Sie haben Erinnerungen, aber es ist für mich unmöglich zu ergründen, ob sie sich auf tatsächliche Ereignisse beziehen, oder nur dünne Tünche über eine spärlich gedeckten Leinwand sind.

Für diese Personen bin ich eine Fremde und ein Tag ist nicht genug um daran etwas zu ändern.

Die große Frage ist, ob ich meinen Erinnerungen tatsächlich trauen kann. Die reine Existenz beweist noch gar nichts - genau wie die Händler sich an ein "gestern" erinnern, tue ich das eben auch. Niemand garantiert, dass nicht 1 Tag dazwischenlag, der ohne Spuren wieder verschwunden ist. Ein Tag, oder deren Einhundert. Ein Jahr. Würde ich den Unterschied bemerken?
Für meinen Seelenfrieden bilde ich mir ein, dass ich einen kontinuierlichen Verlauf an meinen persönlichen Gegenständen ablesen kann, die - wie ich auch - vermutlich einem anderen Gesetz unterworfen sind: Meine Aufzeichnungen bleiben, die erhandelte Kleidung bleibt ebenso. Sofern das System nicht in einer Art und Weise gebaut ist, um auch solche Details zufriedenstellend fälschen zu können, kann ich mich weitgehend sicher fühlen: Das was ich als Tage empfinde, sind tatsächlich auch Tage. Weitgehend. Nicht vollkommen, natürlich.

Ein System kann unmöglich vollständig verstanden werden, solange man selbst ein Teil des Systems und auf dessen Werkzeuge angewiesen ist.

Ironischerweise erinnere ich mich an diese Lektion noch gut, daran wie Jerwalson dieses Zitat nach einer Expedition benutzte, die als einfache Übung für die Rekruten gedacht war und darin endete, dass sich zwei eigentlich freundliche Kompanien gegenseitig beschlichen. Damals war der Anlass - natürlich - die vollkommene Verwirrtheit der führenden Offiziere. Aber es passt auch sehr gut auf diese meine aktuelle Situation.

Aber nun: Genug geträumt. Es gibts nichts zu tun, aber das will erledigt werden. Ich habe Sorge ich könnte mich sonst in der Zwischenheit doch noch in einen der Anwohner hier verwandeln.

Ein weiterer Morgen folgt einem Abend ohne andere Reisende. Es ist nun Tage her, dass ich ein anderes menschliches Gesicht als die Händler zu sehen bekommen habe und ich kann spüren, wie das an mir nagt.
Das ist aus sich heraus bereits eine interessante Beobachtung: Während meiner Zeit auf den Strassen Grauhafens war ich die allermeiste Zeit mir selbst überlassen, scheute auch vor den Banden von Dieben und Trickbetrügern zurück, unter denen ich mich in Breitenbach noch so selbstverständlich bewegt hatte. Aber damals war die Einsamkeit selbst gewählt, kein Fakt der mir von aussen aufgedrückt wurde.

Hier, auf der Insel der Nebel, ist sie unvermeidlich und ich spüre jeden Tag ein mehr wenig Widerwillen die immer gleichen Gespräche zu führen. Nach den ersten Tagen peinlicher Berührtheit, spüre ich ein eigenartiges Ressentiment, eine frustrierte Verachtung für diese Menschen. Es wäre zu einfach nun kleinen Grausamkeiten Raum zu gewähren, Grobheiten aus Langeweile oder Ärger zu führen, immer in der Gewissheit, dass alles was man tut am nächsten Morgen ausgelöscht sein wird.
Ein Teil von mir _ist_ neugierig: Würde ein neuer Tag noch immer so unverändert beginnen nachdem ein Feuer die Häuser hier verschlungen hat?

Das sind beunruhigende Gedanken und ich konzentriere mich lieber auf die Arbeiten: Nach meinem Scheitern den Enigmatischen Dualismus Jerwalsons präzise zu beschreiben, habe ich mit etwas Einfacherem begonnen: Eine Auflistung der Worte der Macht, jeweils mit Erläuterungen und Kommentaren. Die Form ist armselig: Das Papier ist minderwertig und teilweise muss ich auf Ränder schreiben, aber .. es ist besser als nichts. Es ist ein Fortschritt und damit wertvoll und lieb auf einer Insel auf der die Zeit sonst stillzustehen scheint.

Vielleicht sollte ich ja beten. Wer weiss.

Breitenbach, die Stadt in der ich die ersten Jahre meines Lebens verbrachte, war mit den Tugenden im Kopf gegründet worden. Die innere Mauer, auch dieser Tage noch weitgehend unbeschädigt erhalten wenngleich die Stadt sich längst über ihre Begrenzung hinaus ausgedehnt hat, besitzt insgesamt acht Türme. Jeder dieser Türme trägt den Namen eines der Erzengel und ist entsprechend auch einer der acht Tugenden gewidmet. Es ist nun siebzehn Jahre her, aber ich erinnere mich noch immer lebhaft an die bemalten, mit Ornamenten, Plastiken und Sinnsprüchen verzierten Fassaden.
Ich hatte im Zuge meiner erzwungenen Dienstpflicht einige Gelegenheit mehr über die inneren Strukturen Breitenbachs zu erfahren: Zumindest nominell sind die Türme der Erzengel auch der Sitz von je einem "Wahrer der Ordnung" einer Tugend, jeweils gewählt aus den Reihen ihrer Gefolgschaft. Das alles hat mit dem Glauben an den Herren sehr wenig zu tun, die Verbindung ist bestenfalls lose und im Laufe der Jahrzehnte scheint mir der ursprüngliche Gedanke sehr in Richtung reiner politischer Masche verwandelt worden zu sein.

Wie dem auch sei: Die allermeisten Bewohner Breitenbachs ordnen sich zumindest formell einer Tugend zu und sind dann eben auch dafür verantwortlich den Wahrer zu wählen. Ich erinnere mich nicht welcher Tugend meiner Mutter folgte und ich hatte sehr wenig Kontakt mit dem Glauben über die oberflächlichen Symbole des Alltags hinaus. Nachdem sie sich auf die Suche nach ihrem verlorenen Geliebten gemacht hatte, waren alle zarten Ansätze von Religiosität ohenhin zum Verkümmern verdammt: Auf der Straße wurden die Tugenden bestenfalls benutzt, um ein paar Münzen von den Devoten zu erbetteln, der einzige echte Glaube war der an einen gefüllten Magen.

Ich lernte wenig über die richtigen Gebete, dafür viel darüber den Kopf unten zu halten, sich vor Autoritäten zu beugen, wann immer es notwendig war und schamlos zuzugreifen, wann immer möglich.
Als ich Breitenbach schliesslich verließ: Verbannt, meine zerschmetterte linke Hand eine Strafe für mich und eine Warnung für alle, die meiner ansichtig wurden, fluchte ich ausgiebig im Namen der Erzengel. Das, denke ich heute, ist das Gleichgewicht aller Dinge: Aktion und Reaktion, Bewegung und Gegenbewegung.
Es liegt eine furchtbare Kraft in der Entschlossenheit eines Mannes, der sein Tun als gerechtfertig ansieht.

In Grauhafen hätte ich, dieser Dynamik folgend, irgendwann ein trauriges Ende nehmen können, aber ich hatte Glück und fand den Weg zum Handelshaus Telketh. Das hatte seinen ganz eigenen Preis, aber es brachte mich auch zum ersten Mal seit den frühen Jahren meiner Kindheit wieder in Kontakt mit dem Glauben an den Herren.
Ich saugte die Gebete und Rituale auf, die Lebensweise, die sich auf ganz andere Art und Weise an den Tugenden (und den Sünden) orientierte, als ich es noch vage von früher in Erinnerung hatte. Aber ich blieb opportunistisch distanziert: Das hier war was man von mir erwartete, insbesondere nachdem man mir eine so außergewöhnliche Chance gegeben hatte und ich war absolut bereit das Notwendige zu tun für einen gefüllten Magen, ein echtes Bett und ein kleines Zimmer.

Dennoch: Mit der Zeit wurden die kleinen Rituale zur Gewohnheit, prägten sich in den Alltag ein mit der gleichen Selbstverständlichkeit, wie sie auch für Essen und Trinken aufgebracht wurde.
Ich bin bis heute unsicher, ob das tatsächlich als "Glaube" gilt. Mein einziger Versuch diese Thematik mit Jerwalson zu besprechen, endete in einer nahezu endlosen Tirade an deren Ende er schliesslich das bekannte System von Worten der Macht und Reagenzien mit den Handlungen von betenden Priestern verglich: Beide auf ihre Weise vollkommen ahnungslos, abhängig von einer höheren Autorität, die das eigentliche "Tun" nach der Opfergabe dann in Angriff nimmt. Das erstickte all meine Ambition Glaube mit ihm zu besprechen.

Aber letztlich denke ich, dass Religion für die allermeisten Menschen außer einem kleinen Zirkel von tatsächlich Erwählten, sehr abstrakt und entfernt ist: Rituale und Vorgaben, die von einer höheren Stelle angewiesen werden und denen man dann eben folgt. Ja, man bittet den Herren um Beistand, um Einsicht, um günstige Winde oder dumme Kunden, die man über das Ohr hauen kann, aber nach meiner Erfahrung erwartet niemand tatsächlich, dass der Herr tätig wird und etwas tut. Aber: Es ist besser den kleinen, allgemein akzeptierten Aufwand zu betreiben und sei es allein aus abergläubischer Versicherung, dass man nicht versehentlich den Zorn durch Unterlassung erweckt.

Was hat das alles mit dem Hier und Heute zu tun?

Jemand hat diese Insel in den Nebeln geschaffen, hat die Regeln definiert und dafür Sorge getragen, dass jeder Tag unverändert neu beginnt. Aber wer? Und wozu? Mein Bauchgefühl sagt mir, dass ein solcher Ort nicht einfach als grausame Spielerei existiert, sondern zu einem ganz bestimmten Zweck, eine Funktion innehat. Vielleicht ist es genau das, was ich zuerst vermutete: Der Übergang zum Nachleben, eine kurze Pause für die erschöpfte Seele um sich zu sammeln, um Kraft zu schöpfen, bevor die Reise hinter die Schleier ansteht. Um zu akzeptieren und das Angebot des Fährmanns schliesslich anzunehmen, der nichts über das Ziel verraten möchte.

Jeden Tag schrecke ich davor aufs Neue zurück.

Vielleicht wäre es einfacher, wenn ich den Glauben in meinem Herzen tragen würde, statt nur wie ein Gewand, das man eben überstreift, wo es bequem und passend ist.
Aber das ist nicht, wie ich aufwuchs.
Das ist nicht, was ich lernte.
Das ist nicht, wer ich bin.

Vielleicht bedeutet das aber auch, dass ich hier auf ewig gestrandet bin.

Ein weiterer Tag eintönige Gleichförmigkeit auf der Insel. Auch heute, so scheint es, wird es keine Reisende an diese Gestade spülen, aber ich denke ich habe mich - zumindest für den Moment - damit arrangiert. Ich muss mir einfach meine eigene Abwechslung schaffen und die kann nicht ausschliesslich aus Arbeit bestehen.

Die Insel ist, wenngleich zu Fuß binnen weniger Minuten umrundet, ein ganz hübsches Fleckchen, eine interessante Mischung von Eindrücken, die sich auf engem Raum zusammendrängen. Das Wetter ist, vom morgendlichen Regen einmal abgesehen, auch durchaus angenehm, sobald die aufsteigende Sonne die Feuchtigkeit vom Sand geleckt hat, lädt der Strand regelrecht zum Verweilen ein und erlaubt einen Blick über die offene Wasserfläche überall umher.

Breitenbach, Grauhafen und Rossensprung liegen allesamt am Lauf der Usser, ein schiffbarer Fluss, der jeden Frühling noch ein Stück weit anschwillt und bisweilen sogar die Auen großflächig überschwemmt. Rossensprung liegt direkt an der Mündung der Usser zum Meer hin, oder besser: Die Stadt wuchert im sumpfigen Delta.
Ich bin also durchaus mit dem Anblick eines großen Wassers vertraut - aber dieser Anblick ist einfach etwas anderes, als ich von der müßigen Betrachtung des Horizonts gewohnt sind: Hier gibt es keinen.

Der Himmel, der hier jeden Tag die gleichen Wolkenmuster trägt, geht mit der Entfernung von der Insel ohne scharfen Übergang in dichte, träge driftende Nebel über. Dieser Nebel ist genauso statisch in seiner Natur wie die gesamte Insel und damit vermutlich das gesamte Areal: Nichts verändert sich. Nach einem Tag beginnen alle Abläufe wieder von vorn.
Unabhängig von Wetter und Uhrzeit bleibt der Nebel bestehen, beschreibt eine Grenze ausserhalb meiner Reichweite.

Es ist nicht so als würde ich keine Neugierde verspüren, aber mich schaudert weiterhin beim Gedanken mich hölzernen Planken für eine Reise ins Ungewisse anzuvertrauen. Und ich habe niemals gelernt zu schwimmen.

Niemals gelernt zu schwimmen.
Und doch bin ich hier.

Das ist eine Erinnerung, der ich mich nicht stellen möchte, aber sie hängt über mir, wie meine eigene schwere Gewitterwolke.

Die “Siebentrutz” hatte ihre Reise von Rossensprung aus angetreten, Teil jüngerer Bemühungen der Grafschaft diplomatische Kontakte jenseits des eigenen Terrains zu erschließen - immer mit dem Gedanken den langjährigen Konkurrenten Siebensteig damit endlich ausstechen und die geforderte Einheit wiederherzustellen.

Die Aufgabe der Armee war neben dem Schutz des Botschafters auch die allgemeine Präsentation und aus irgendeiner Laune des Schicksals war meine Kompanie für diese Aufgabe ausgewählt worden.

Und abgesehen vom abergläubischen Gemurmel der Matrosen, die mir stets schele Blicke zuwerfen, war die Reise auch ereignislos verlaufen - bis zu jenem Abend.
Während der Rest meiner Kameraden sich mit Kartenspielen die Zeit vertrieb, hatte ich das Glück, die eingeschränkte Laune Jerwalsons ertragen zu dürfen.

Bis zu jenem Abend, als die Regeln sich änderten.

Ein weiteres Mal demonstrierte er mir Sammlung, Verdichtung und Konzentration von Mana, die Bindung in Objekte hinein - etwas, was sich bis dahin vollkommen meinem Verständnis entzog (und es noch heute tut). Und dann .. geschah etwas.

Ich kann es kaum in konkrete Eindrücke fassen, aber ich erinnere mich an das ungläubige Entsetzen in den Augen meines Lehrmeisters, die vollkommen konfuse Verwirrung, ein Ausdruck der endlich einmal das selbstzufriedene zynische Lächeln von seinem Antlitz wischte. Ich hätte Genugtuung in diesem Augenblick finden können, aber ich war selbst dabei um Atem zu ringen, gebeutelt von unsichtbar bleibenden Mächten, deren Vorbeiziehen meinen Geist wirbeln ließ. Für einen Moment, ich bin bereit darauf zu schwören, konnte ich die Magie sehen und die absurde Art und Weise, wie sie sich in eine unmögliche Richtung verbog. Das, wurde mir bewusst, musste die transitive Eigenschaft der astralen Ebene sein. Oder auch nur eine aus Panik geborene Halluzination.

Alles .. bewegte sich.

Ich habe keine bessere Erklärung dafür, keine passenden Worte für die Transformation, die ihre Kraft aus der ungebundenen Kraft meines Lehrmeisters zog. Holz wurde zu Wasser, Metall wandelte sich in Luft, eine Kerzenflamme transformierte vor meinen ungläubigen Augen in eine sich windende Ranke.
Die Fassungslosigkeit ist das Letzte, an das ich mich erinnere, während die “Siebentrutz” um mich herum auseinanderbrach.

Danach gab es nichts, bis ich die Augen am Strand dieser Insel wieder öffnete.

Allein.

Die Geschichte Ussarias - des Landes das zwischen zwei Gebirgszüge im Norden und Süden eingeklemmt liegt und dem Lauf der Usser bis zur Mündung folgt - erstreckt sich über einen Zeitpunkt von mittlerweile 450 Jahren. Will man der offiziellen Geschichtsschreibung glauben, dann wurde das Land damals von unerschrockenen Siedlern erobert, die vom Meer kommend, das lange Tal in Besitz nahmen.

Es bleiben ein paar Fragen offen, vor allem über die Dinge, die nicht erwähnt werden: Woher kamen diese Siedler? Es gibt keinerlei Erwähnung ihrer ursprünglichen Herkunft, dann und wann zu findende Details machen eher den Eindruck nachdrücklich erdachter Rechtfertigung als fundierter Forschung.
Außer Frage steht, dass die Siedler hier recht bald auf ein paar Stämme von kleinwüchsigen und schwächlichen Orks stießen - zumindest wird der Name gebraucht, auch wenn die Beschreibung des Massakers an dem primitiven Volk mich zweifeln lässt: Das kann kaum mit dem modernen Bild eines Orks, wie es mir während meiner Ausbildung vermittelt wurde, in Verbindung gebracht werden.

Wie dem auch sei, das ganze langgestreckte Tal wurde schließlich erobert und besiedelt, Siedlungen wie Breitenbach, Beiring, Grauhafen und Rossensprung begründet, um letztlich zu unterschiedlich beeindruckenden Städten zu wachsen. Die offizielle Geschichtsschreibung Ussarias beginnt mit der Anlandung der Siedler, im Jahr 73 kam es dann zu der großen Spaltung, ein Ereignis, das auch heute noch bestimmenden Einfluss über die ganze Region hat: Der Erbfolgestreit zwischen zwei Brüdern über die Grafenkrone Ussarias eskalierte und mündete in einem Bürgerkrieg. An dessen Ende stand die Aufspaltung Ussarias in zwei sich gegenseitig nicht anerkennende neue Grafschaft, die offiziell beide noch immer den Namen “Ussaria” führen, heute aber viel mehr als “Siebensteig” und “Auenstein” bekannt sind.

Die isolierte Lage des Tals, begrenzt durch Gebirge auf 3 Seiten und durch das Meer auf der vierten, erlaubte es nun über die kommenden Jahrhunderte hinweg dieser Fehde ungestört zu frönen - die politische Situation ist auch heute noch weitgehend unverändert. Die zahlreichen Kleinkriege haben die Grenze oft ein Stück in diese oder jene Richtung verschoben, aber letztlich vermochte es keine Seite die Oberhand zu gewinnen.

Rossensprung ist der einzige nennenswerte Hafen in Richtung des Meeres, konkurrenzlos trotz der Nachteile die sich durch die Lage im Sumpfdelta der Usser ergeben: Feuchtigkeit ist allgegenwärtig, liegt so dick in der Luft, dass beständig Wasser an den Wänden kondensiert oder von den Fenstern perlt. Nicht zu vergessen, dass die Stadt immer dabei ist im Boden zu versinken.

Aber das ist gar nicht worauf ich hinaus möchte.

Der ganze Landstrich brät seit Jahrhunderten im eigenen Saft mit nur geringem Austausch mit anderen Ländern. Kultureller Austausch findet nach meiner Einschätzung nahezu ausschließlich in Rossensprung selbst statt, einfach über hier anlegende Schiffe. Es darf also nicht verwundern, dass ich während meiner Zeit in Breitenbach oder Grauhafen keinen einzigen Nichtmenschen zu Gesicht bekam, erst in Rossensprung kam es zu einigen wenigen Begegnungen.
Ich scheue mich fast, es überhaupt so zu nennen: “Sichtungen” ist ein vermutlich passenderes Wort.

Von diesen fremden Völkern ist das der Elfen eindeutig am häufigsten anzutreffen: Es gibt eine kleine Gemeinschaft von Zwergen in Beiring - aber ich habe die Hauptstadt Siebensteigs nie mit eigenen Augen gesehen. Einem Schiff scheint dieses Volk sich aber nur sehr selten anvertrauen zu wollen. Orks kann man bestenfalls in Käfigen bewundern.

Elfen besuchen die Region häufig genug, dass es zwar so gut wie keine mir bekannten festen Einwohner dieses Volkes gibt, aber dafür einiges an Aberglauben - einiger lächerlich ehrfürchtig, anderer offen feindselig oder herabwertend.

Mein eigenes Erbe war für lange Jahre etwas abstraktes, bedeutungsloses im Hintergrund: Natürlich wusste ich durch die schwärmerischen Erzählungen meiner Mutter von diesem Elfen, der - vermutlich - mein Vater sein musste. Aber ich besaß keine magischen Augen, keine spitzen Ohren, keine angeborene, majestätische Eleganz. Ganz im Gegenteil: Ich war ein Kind, das rasch hinter anderen Kindern meines Alters zurückfiel. Meine Erinnerungen an diese Zeit sind so gut wie nicht vorhanden, einiges existiert nur durch Erzählungen meiner älteren Halbbrüder (die nun selbst schon nahezu vergessen sind), aber das scheint ein durchgehendes Thema gewesen zu sein: Ich lernte später laufen und sprechen, ich war länger eine hilflose Bürde als meine Geschwister.

Während meine Gefährten der späteren Jahre allmählich zu Erwachsenen heranwuchsen, blieb ich noch ein Kind.
Zurückblickend lässt sich das leichter einschätzen, zumindest was die ersten Jahre in Grauhafen angeht: Das war 433, ich war bereits sechzehn Jahre alt, passte aber körperlich und auch geistig viel eher in ein Rudel von Zwölfjährigen.

Ich erinnerte mich erst wieder bewusst an meine Herkunft, als ich tatsächlich aufhörte ein Kind zu sein: Zu den sichtbaren Veränderungen gehörten auch die dezenten Ohrspitzen, Aspekte in meinem Antlitz die schon immer dagewesen waren, prägten sich deutlicher hinaus.
Ich stelle mir vor, dass das in einer anderen, mehr offenen Gesellschaft nahezu unbeachtet geblieben wäre, aber die allermeisten Menschen in Auenstein hatten Elfen so selten einmal gesehen, dass mein Anblick trotz der eher subtilen Anzeichen fälschlich als vollständiges Elfenblut verstanden wurde.

In gewisser Weise amüsant: Mein einziges Zusammentreffen mit einem echten Elfen schlug mir die Unterschiede regelrecht ins Gesicht: Die beeindruckende Größe im Vergleich zu mir, die ungewöhnliche Hautfarbe, die fremdartigen Züge und die Sprache. Nie in meinem Leben war ich mir selbst meiner Unzulänglichkeiten und Makel so bewusst, wie vor dem scharfen Auge des elfischen Händlers.

Er war nicht einmal unfreundlich. Aber die Mischung aus Mitleid und offener Verachtung stach.

Vor Jahren fragte Ludwig mich einmal, was ich mit meinem Leben vorhätte. Was die Pläne und Ziele wären, die sich darin finden, die mich beflügeln und motivieren würden.

Ich erinnere mich gut an den Abend: Wir hatten unsere heimlichen Unterweisungen bei der blinden Seherin gerade hinter uns gelassen und waren auf ein paar zusammengenagelten Planken mit einer Laterne in der Hand in die westlichen Sumpfwiesen hinausgestakt. Die meiste Zeit des Jahres stand das Wasser hier eine gute Hand über dem Boden, aber "Boden" war eine irreführende Bezeichnung für eine Sammlung von Schlick, toten Ästen, Blättern und ähnlichem. Er erweckte den Eindruck von Solidität, solange man nicht dumm genug war seinen Fuß darauf zu setzen um diesen Eindruck zu prüfen. Wer dieses Wagnis doch einging, der versank sogleich bis zum Hals ohne je tatsächlich festen Grund unter die Schuhe zu bekommen.
In der Masse zu schwimmen war faktisch unmöglich, selbst für jene, die diese Fertigkeit erlernt hatten - aber solange man nicht zappelte, würde man auch nicht weiter untergehen, sondern im Gleichgewicht treiben.
Entwürdigend, aber nicht sonderlich gefährlich, solange es noch einen Begleiter gab.

Ohne einen Begleiter sah es anders aus: Dieses Areal hier war die Brutstätte von Brackwasserkrebsen und diese betrachteten alles als Beute, was sich in ihre Reichweite begab. Eben diese Krebse waren aber auch ihrerseits begehrtes Gut: sie wuchsen bis zu doppelter Fingerlänge heran und waren zwar nicht gerade als Delikatesse bekannt, aber dafür in scheinbar unerschöpflicher Menge vorhanden: Wer hier zur Abendstunde hinausfuhr, der konnte immer irgendwo die Lichter anderer Krebssammler sehen. Insbesondere wenn dann Nebel aufzog, streute das Licht der Laternen weit, zeichnete weiche Aureolen, die den halben Sumpf zum glühen brachten.

Damals dachte ich mir nicht viel bei der Frage, aber das Gefühl von Befremdung ist noch immer deutlich im Blick zurück. Was bedeutete diese Frage? Für mich war der Blick nach vorn immer ein sehr kurzer gewesen. Zunächst konzentriert darauf etwas im Magen zu haben oder einen trockenen Platz zum schlafen. Später dann darauf meinen Status zu halten, sich abzeichnenden Gefahren auszuweichen.

Aber es gab keinen Plan dahinter, keinen Antrieb. Ich ließ mich einfach tragen wie ein Blatt, das der Herbstwind auf eine Reise entführte. Wie farblos war das neben der sprudelnden Vorstellungskraft Ludwigs, der mir bereits im Detail beschreiben konnte, welche Schritte in den kommenden Jahren auf ihn warteten, der voller Zuversicht bereit war sich diese noch ungeformte Zukunft Untertan zu machen.
Sein Weg schien bereits vorgezeichnet: Abschluss der Schusterlehre, dann Auszug als Geselle aus Rossensprung, danach andernorts formelle Ausbildung zum Jungmagier. Während er mir all das in glühenden Farben beschrieb, hegte ich keinen Zweifel daran, dass es genau so kommen würde.

Wie konnte ich neben dieser überströmenden, schöpferischen Kraft nun einfach die Schultern zucken und zugeben, dass ich ganz zufrieden mit meiner Stelle als Schreiber für Haus Telketh war, dass mich der Sumpf gar nicht so sehr störte, wie die Klagen es manchmal erscheinen ließen, dass selbst die Magie zu mir gekommen war, wie eine unerwartete zusätzliche Hausarbeit auf einer bereits ausführlichen Liste?

"Sobald ich hier herauskomme, werde ich das Elfenvolk suchen. Nicht einmal um meinen Vater zu finden, sondern einfach um mehr über mein Erbe zu lernen, darüber, wer ich bin und wer ich sein kann."

Er strahlte. Und ich fühlte mich .. interessant. Ich lauschte seinen Plänen, fasziniert und erstaunt zu gleichen Teilen über seine Fähigkeit die noch ferne Zukunft mit kraftvollen Worten zu fassen, wie ein Schreiber, der zum ersten Mal Tinte auf noch jungfräuliches Pergament ausbringt.

Ich fühlte kein schlechtes Gewissen wegen der rasch gesponnenen Lüge.

Jetzt, Jahre später, verstehe ich die Vergeblichkeit dieser frohen Pläne. Ich habe gesehen, wie die Karten sich ausspielten. Das ist es, denke ich, was es bedeutet aufzuwachsen: Zu erkennen, dass man am Ende doch nur ein Blatt ist, das stärkere Winde herumwirbeln.

Jetzt haben sich mich auf diese Insel hier getragen, an einen Platz dessen Eintönigkeit wie ein Spiegel für mich selbst ist.

Vielleicht wird es Zeit, dass ich aus einer alten Lüge endlich eine Wahrheit mache, auch wenn Ludwigs eigene Pläne schon lange nicht mehr das sind, was sie damals waren. Wenigstens einer von uns kann sein Wort halten.

Vielleicht.

Ein neuer Tag. Ein alter Tag. Der Regen fällt und die Gespräche laufen, festgefahren in ihren Bahnen wie ein Bach, der sich mit den Jahrhunderten ein Bett in den Fels grub.

Warum bin ich hier?

Warum bin ich noch immer hier?

Die Wanderung über die ruhig liegende Insel offenbart nichts Neues, selbst im Muster der gegen den Strand laufenden Wellen glaube ich mittlerweile ein Muster zu finden. Das ist irrational, aber allein der Gedanke zerrt bereits an meinen Nerven.

Ich bin dieses Ortes müde. Wieviele Tage?
Ich habe aufgehört zu zählen, aber aus den einzelnen Blättern ist ein ganzer Stapel geworden, hastig hingeworfene Erinnerungen an die Lektionen aus dem Mund einer Blinden und eines zynischen Säufers.

Eigenartig, wieviel Trost darin liegt.

Würde ich dahin zurückkehren, wenn ich könnte?

Die Frage begleitet mich durch den Tag, bleibt ein treuer Gefährte, während ich auch heute ein neues Blatt Papier eintausche und dem Schneider einmal mehr dabei helfe seine Schere zu schleifen. Die Frage ist an meiner Seite als die Sonne am Nachmittag ihr Gesicht hinter grauen Wolken verbirgt.

Und dann - unversehens, ungeplant - finde ich mich vor dem scharfen Blick des Fährmanns, der mich fixiert und .. misst. Als wäre er hier nicht Dienstbote, sondern König.

Zum ersten Mal spüre ich wie die klamme Furcht von mir fällt als er spricht.

"Du hast dir viel Zeit gelassen, Fel."

Ich erinnere mich an diese Stimme. Sie ist ..

Gegenwart: Die Neue Welt

Gedanken und Meinungen

Er hat keine Gelegenheit ausgelassen um mich daran zu erinnern, was ich bin.
Ich kann ihm sein Sentiment nicht verübeln: Seine Perspektive ist eine, die sich über mehr Zeit erstreckt als ich mir vorstellen kann.
Nun macht er gute (oder zumindest neutrale) Miene zum bösen Spiel, aber ich denke er wartet nur darauf die kleinste Verfehlung anklagend gegen mich zu wenden.

Er ist, das versprechen mir seine Augen, ein Geschöpf dessen Gnade von den Gestaden der Zeit fortgewaschen wurde.

Hinter der lächelnden Fassade versteckt sich ein Mann, der alles daran setzt sich selbst davon zu überzeugen, dass er nichts Ernst nimmt. Ich glaube, er wäre gern ein Zyniker, der für die Welt und ihre Anwohner nurmehr Spott und Verachtung übrig hat. Aber das ist er nicht und ich denke, dass er sich trotz allem jeden Tag ein wenig mehr davon entfernt.

Eigenartigerweise, trotz profunder Unterschiede, fühle ich mich ihm mehr verbunden als allen anderen Mitgliedern der Hafengruppe.
Ich bin nicht ganz sicher warum: Erinnert er mich an das, was Jerwalson in seiner Jugend hätte sein können?

Sie ist .. befremdlich. In ihrer Weltsicht, die so tut als gäbe es kein Grau zwischen Schwarz und Weiss. In der Art und Weise, wie sie Entscheidungen trifft und zwar sehr viel robuster, als man meinen sollte, mit einer Unverblümtheit, die keinen Raum für Zweifel lässt.
An manchen Tagen denke ich, sie hätte unter anderen Umständen einen formidablen Paladin abgeben können und dann sind da die Momente, in denen meine Paranoia mir zuflüstert, dass sie uns alle - und mich im Besonderen - an der Nase herumführt.

Manchmal frage ich mich, was Fenrik und sie aneinander finden. Und dann ist es wieder so offensichtlich wie ein Faustschlag ins Gesicht und ebenso schmerzhaft.

Der Mann ist mir ein Rätsel. An der Oberfläche ist alles klar: Ein robuster Raufbold und Tunichtgut, unbekümmert und rasch entschlossen. Unhöflich, handgreiflich, gierig. Ohne Elira als ständiger Quell bedingungsloser Bewunderung und Bestätigung wäre er gewiss eine Gefahr für jede atmende Kreatur in seinem Weg.
Warum ist er hier? Ich nehme ihm seine Liebe nicht für einen halben Herzschlag ab. Aber was plant er? Und wer bezahlt ihn?

Und wie lange wird das noch gutgehen?

An den meisten Tagen denke ich, dass Lin das einzige wirklich aufrichtige Mitglied der kleinen Hafengruppe ist. Auch wenn ich relativ sicher bin, dass ihr schon diese Einordnung nicht gefallen würde. Sie hat Ambitionen, daraus macht sie keinen Hehl und alles was sie tut ist in irgendeiner Art und Weise diesen fernen Zielen untergeordnet.
Das ist etwas, was ich nur bewundern kann: Sie lässt sich nicht einschüchtern, ganz gleich wie weit entfernt ein Palast und das tägliche Bad in frischer Stutenmilch aus sein mögen.

Meine Vermutung ist daher auch, dass sie an Cillian aus aktueller Bequemlichkeit festhält und nur genau so lange, wie seine Kurzweiligkeit und Nützlichkeit den Aufwand wert sind. Sobald sich am Horizont der Anschein etwas Besseren ergibt, wird sie ihn fallen lassen, wie eine heisse Kartoffel. Ich vermute, das ist ihnen Beiden auch durchaus bewusst.

Ich dachte ich würde ihn verstehen: Ein Mann der seine besten Jahre bereits hinter sich hat, noch immer hadernd mit dem unvermeidlichen Niedergang. Das ist nichts, was ich nicht zuvor schon andernorts gesehen hätte: Ein Mann gerade balancierend zwischen Selbstverleugnung und Akzeptanz, jemand, der das Versprechen des drohenden Endes bereits am Horizont erahnt und weiss: Es bleibt nicht mehr soviel Zeit, wie man einst dachte. Es wird Zeit die Angelegenheiten in Ordnung zu bringen. Das Haus zu richten. Erben zu bestimmen.

Aber nichts davon geschieht. Was bedeutet das? Und welche Rolle spielt Shira dabei?

Ich weiss nicht, was sie ist. Ich verstehe nicht, was sie motiviert. Ich habe nicht einmal einen Maßstab, um ihre Existenz einzuordnen. Bis vor wenigen Tagen glaubte ich diese Beziehung zu Livius wäre eine von einseitiger Abhängigkeit: Eine mit einem Lächeln angezogene Kette um den Hals des Magiers. Aber nun habe ich meine Zweifel.

Geschichte

Der Morgen war kühl genug, dass Fel unter der dünnen Decke fröstelte, die sie am gestrigen Abend an den Docks Nebelhafens halb erkauft, halb erbettelt hatte. Eine Schiffsbrüchige konnte nicht wählerisch sein, daran erinnerte sie genauso auch das Knurren des Magens - die eigenartige Frucht, die sie am Feuer unter der Anleitung Noa Feldspans verspeist hatte, war schon lange verdaut.

Hunger war gut. Hunger bedeutete Antrieb und Motivation, solange man ihn nicht soweit wachsen ließ, dass er schließlich am Bewusstein selbst zehrte. In gewisser Weise war all das vertraut: Das Nächtigen an zufällig ausgewählten Plätzen in notdürftig zurechtgemachten Lagern, das Grummeln im Magen zu Beginn jedes Morgen, verlässlicher als selbst das Aufgehen der Sonne, die sich gerade heute hinter einer dichten Wolkendecke verbarg.

Gewiss: Die letzten Jahre hatten wenig davon gesehen, aber die Erinnerungen an damals waren präsent, wie tiefe Kerben in Holz, die wieder sichtbar wurden, wenn man die dünne Schicht an Farbe darüber abscheuerte.

'Aber ich bin nicht mehr, wer ich damals war.'

Der Gedanke kam mit einem Fetzen von Reue: Die Ankunft hier in Nebelhafen nach dem Ende der "Siebentrutz" hatte die Möglichkeit eines vollkommenen Neuanfangs geboten, aber ohne den rechten Kopf um damit zu planen, war ihr die Möglichkeit eines falschen, eines neuen Namens nicht in den Sinn gekommen. Nun war es bereits zu spät.

'Wenn Namen Identität sind, dann bin ich allein dadurch an meine Vergangenheit gebunden, wie eine Marionette an ihre Fäden.'

Während eines Spaziergangs an den Docks entlang, spielte Fel mit dem Gedanken, was ein passender Name gewesen wäre, steigerte sich schließlich in mehr und mehr lächerliche Konstrukte, die sich durch eine Vielzahl von Apostrophen und Zwischensilben auszeichneten, bis der knurrende Magen beinahe vergessen war.

Diese neue Welt .. das war Potenzial. Ein einziger Abend hatte bereits ausgereicht um das zu verdeutlichen: Nicht einmal war sie auf Anhieb auf eine Elfe gestoßen - und eine andere Gestalt, bei der es sich möglicherweise ebenfalls um eine Elfe handelte - noch dazu hatte sich gezeigt, dass es eine Varianz in den Worten der Macht gab: Das stabile Fundament auf dem Fel ihre Ausbildung bis dahin erbaut sah, begann bereits zu bröckeln in Anbetracht dieser neuen Informationen. In Ussaria gab es nur einen einzigen Pfad der Magier - hier gleich deren vier. Was hatte das zu bedeuten? Welche Ordnung ließ sich dahinter ausmachen?

Während die Sonne sich endlich aus der Umklammerung der Wolken befreite, erkundete Fel weiter Nebelhafen.

Letztlich war Fel nicht vollkommen sicher, wie weit es mit der Gastfreundschaft der Schneiderin tatsächlich her war, aber für den Moment war es ausreichend ein richtiges, wenn auch einfaches Bett zu fühlen, die Möglichkeit zu haben die Türe hinter sich zu schliessen. Die "Siebentrutz" hatte solchen Luxus nicht einmal für ihren Kapitän geboten, umso weniger für mitreisende Gäste, die sich die knappen Schlagplätze in Schichten teilten. 

Die Warnung war unverzüglich erfolgt: Nur für zwei Nächte. Aber das waren Sorgen für morgen oder übermorgen. Bis dahin konnte sich bereits alles geändert haben. Schon ein einziger Tag hatte gewaltige Unterschiede gemacht, hatte Fel erlaubt Bekanntschaften zu knüpfen, erste vorsichtige Bande zu flechten - speziell zu dem argwöhnischen Lama, das nun irgendwie zu ihrem Haustier geworden war.

Im gleichen Maße hatte Fel aber auch erkannt, wie abgeschieden vom Fortschritt Ussaria mit seinen Jahrhunderten von Eigenbrödelei und Bürgerkrieg war, wie viele Einsichten und Wunder die Welt drumherum kannte. Tränke, mit denen sich Lebewesen zusammenschrumpfen ließen? Sie konnte auf Anhieb nicht einmal ein Prinzip formulieren, um diese erstaunliche Wirkung in Spruchzauberei zu übersetzen. Gleich fünf Pfade der Magie warteten hier, erlaubten eine bislang unbekannte Spezialisierung. 

All diese Eindrücke mussten niedergeschrieben, fixiert werden, solange sie noch frisch waren.

Auf der Rückseite eines abgerissenen Aushangs formulierte Fel schliesslich im kargen Licht der einzelnen Talgkerze.

Bislang war für mich die Wirkung und Funktionsweise von Reagenzien simpel: Sie liefern eine spezifische Form von Energie, die bei ausreichender Kompatibilität genutzt werden kann, um einen Zauber zu wirken. Sie sind damit eine der absolut unerlässlichen Grundbedingungen neben den Worten der Macht, Mana und dem Intent. Wenngleich die Wirkungsweise der Reagenzien bisweilen Raum zur Diskussion lässt, war bislang eines zumindest für mich vollkommen klar: Sie liefern eine objektive, theoretisch sogar meßbare Menge an Energie, verlässlich, weitgehend reproduzierbar und gänzlich unabhängig von den Eigenheiten des Zauberwirkers.
Die Ausführungen von Soryia Schwarz haben mich nun auf die Spur von vier, mir bislang unbekannten Reagenzien gesetzt: Obsidian, Molchaugen, Knochen und Fruchtbare Erde. Diese vier Reagenzien stehen in engem Zusammenhang zu den mir bislang ebenfalls unbekannt gewesenen fünf Pfaden - vieren eben dieser Pfade wird genau eine dieser neuen Reagenzien zugeordnet.

Ich war noch nicht genau in der Lage zu evaluieren, ob die reine Möglichkeit Energie aus den Rwagenzien zu ziehen, bereits pfadgebunden ist. Falls ja ermöglicht das einige weitere Spekulationen über die dahinterstehenden Prinzipien und damit vielleicht auch eine Erklärung, warum die bekannten acht Reagenzien überhaupt funktionieren.

Seien wir ehrlich: Die Wahrscheinlichkeit, dass wir unter den Tausenden und Abertausenden an Stoffen und Teilen dieser Welt ausgerechnet die einzigen acht gefunden hätten, die für Magie geeignet sind, ist so gering, dass es keiner Diskussion wert ist. Ich habe mich daher stets gefragt, ob es nicht noch Unmengen an anderen potentiellen Reagenzien gibt, die sich uns schlicht noch nicht erschlossen haben und - falls ja - was uns daran hindert sie zu nutzen.

Die Thematik mit den Pfaden lässt mich nun nachdenken, ob noch mehr dahintersteht: Kann es sein, dass etwas an uns Zauberwirkern schlicht mit der richtigen Reagenzie resoniert? Falls ja müsste das aber bedeuten, dass fremdartige Völker oder Rassen dann auch Zugriff auf andere, für uns nutzlose Reagenzien haben könnten.

Die kleine Kammer unter dem Dach des Gasthauses war ursprünglich Teil eines weit grösseren Raums gewesen. Findiges Geschäftsinteresse hatte den zuvor brachliegenden Dachboden allerdings rasch als mögliche Goldgrube erkannt: Direkt nach der ersten Welle von Ankömmlingen hier auf dem neuen Kontinent, waren dünne Zwischenwände eingefügt worden, teilten den verfügbaren Platz in präzise, knappe Rechtecke.

'Ein wenig wie die Koben eines Schweinestalls.'

Ganz zu Beginn - so hatte Fel sich zumindest erzählen lassen - gab es nur Vorhänge aus muffig riechendem Segeltuch jeweils vor den Ausgängen. Dieser Tage versprachen abschließbare Türen zumindest ein wenig private Abgeschiedenheit in den fensterlosen kleinen Kammern, gerade eben gross genug für ein schmales Bett und ein Nachtschränkchen an dessen Kopfende. Bislang war die Enge nur an den heissen Tagen des Sommers ein Problem gewesen: Wenn das Dach sich aufheizte, gab es für die Luft selbst bei geöffneter Türe so gut wie keine Möglichkeit mehr zu entkommen. Aber gutes Wetter versprach eben auch die Möglichkeit von hier zu fortzugehen, auswärts zu schlafen wie viele der Glücklosen, die keine feste Bleibe gefunden hatten und sich mit einem Zelt oder auch nur einer Plane glücklich schätzten. 

So wie die Tage aber kürzer und kürzer wurden, stieg der Bedarf an einem festen Dach über dem Kopf und das wiederum trieb die wochenweise zu zahlende Miete für die Unterkunft in stetig neue Höhen.

Für Fel verhieß das nichts Gutes: Das Auskommen für Hilfsarbeiten beim Hafen, bei der Korrektur von Büchern und dem Verfassen von Briefen war unregelmässig und gering, gerade eben genug um bislang mit den Preisen für das Leben als solches mitzuhalten. Selbst das Sammeln von Kräutern erwies sich jeden Tag als ein wenig schwieriger, unproduktiver: Die nähere Umgebung Nebelhafens war schon lange abgegrast, dass es nun langwierigere Wege brauchte und damit auch die stetige Gefahr gefährlichen Wildtieren über den Weg zu laufen. Mit der Ahnung des Winters am Horizont schien klar, dass auch diese kargen Einkünfte nicht sehr viel länger halten würden.

'Zumindest hätte ich dann wieder mehr Zeit um etwas zu lernen.'

Der Galgenhumor an diesem Gedanken schmeckte ein wenig zu bitter wegen der Wahrheit darin: Die Studien hatten gelitten und die verfügbaren Mittel erlaubten ihr schon länger nicht mehr über Theorien und Worte zu schreiben - weder Papier noch Feder oder Tinte gab es für umsonst und das hieß die begonnene Zusammenfassung einst erworbenen Wissens war zu diesem Zeitpunkt kaum mehr als eine Absichtserklärung. Nicht genug um irgendjemanden von Potential zu überzeugen.

Selbst jetzt gehörten die kostbaren Abendstunden der Arbeit, beugten sich der Notwendigkeit Wäsche zu erledigen, gesammelte Kräuter und Pilzen an aufgespannten Leinen quer durch die kleine Kammer aufzuhängen und die Beute früherer Tage sorgsam zu trocknen und auf mögliche Schäden zu untersuchen. Eine ganze Anzahl Alraunen warteten unter dem Bett nur auf den nächsten Mondwechsel für die weitere Verarbeitung und der schon länger wartende Ginseng war kurz davor in klebrige Paste verarbeitet zu werden.

'Alles hängt davon ab, dass ich wenigstens diese Kammer hier halten kann. Wo sollte ich das sonst aufgewahren?'

Dabei - das hatte sich unverhofft gefügt - war dieser letzte Abend ein erstaunlicher Erfolg in verschiedener Hinsicht gewesen: Zum Einen hatte Fel es fertiggebracht den ersten Teil ihrer Wäsche fertigzustellen ohne den mitgenommenen Stoff weiter zu beschädigen, zum anderen hatte sich ein wenn auch wackeliges Arbeitsangebot ergeben - fast schon genug, um die Warnungen des Magiers in den Hintergrund treten zu lassen. Dessen Anspielungen ließen erahnen, dass es sich bei dem rotbeschopften Barden um einen eher zwielichtigen Gesellen handeln musste: Vielleicht ein Trickbetrüger oder tatsächlich ein an Land gespülter Pirat. Das Gespräch war auf jeden Fall kurzweilig gewesen, eine willkommene Abwechslung zu viel eintönigeren Pflichten und Notwendigkeiten.

Und am Ende: Der Ork. 
Die geforderte Botschaft zu übermitteln war eine Kleinigkeit gewesen und die dafür gezahlte Belohnung versetzte Fel einen regelrechten Stich: Das so beiläufig ausgeschüttete Handgeld war genug um die Miete der kleinen Kammer für die kommenden zwei Wochen zu zahlen und der Ork schenkte es mit einem barbarischen Grinsen fort, als wäre es bedeutungslos.

Das war ein Gedanke, der bei Fel blieb, während sie noch Stunden später nach oben auf die kreuz und quer verlaufenden Schnüre durch ihr winziges Zimmerchen starrte, darauf wartend, dass die Nachbarn endlich ihren täglichen Streit beendeten und dem Geschrei nicht weniger laute, aber zumindest absehbare Tätigkeit folgen ließen.

'Lächle und sei froh, denn es könnte schlimmer kommen.'

Mit diesem Gedanken und dem Bild eines lächelnden Dunkelelfen vor Augen tauchte Fel schließlich in das nächtliche Vergessen ein.

Mitten in der Nacht war der Regen gekommen: Unverhofft und unangekündigt, ein Wolkenbruch wie der Wutausbruch eines Kindes, dessen Zorn sich binnen weniger Minuten wieder erschöpfte. Das Trommeln des Wassers auf dem Dach hätte Fel unter anderen Umständen aus dem Schlummer gerissen, aber heute war der tosende Lärm des auf hohl liegende Schindeln fallenden Wassers eine willkommene Abwechslung in schlafloser Unruhe.

Dem vorausgegangen waren Stunden des Starrens auf die kreuz und quer gespannten Fäden, das Blättern in der wilden Sammlung mitgenommener Papiere. Selbst an der Ergänzung der eigenen Notizen mit den Hinweisen und Korrekturen der zufällig besuchten Unterweisung zu den Worten der Macht hatte Fel sich bereits versucht, aber ein um das andere Mal ertappte sie sich dabei, wie die Hand verharrte und die Gedanken zu dem Zusammentreffen des letzten Abends zurückkehrten.

Dabei hatte der Abend allzu gewöhnlich begonnen: Eine Konfrontation mit dem trübäugigen Nachbarn aus der Nebenkammer, dessen Schnarchen sich später selbst gegen das Tosen des Regens behaupten sollte. Die Zahlung der Miete für die nächste Woche - der Anblick der mühsam verdienten Münzen, die in der Tasche der spröde lächelnden Vermieterin verschwanden, brach Fel schier das Herz. Und natürlich all die kleinen Aufgaben, die zu ergattern sie in der Lage gewesen war: Heu wenden auf einem der Felder, die Fütterung übernehmen für ein ganzes Rudel kläffender Hunde, Wäsche sortieren für besser betuchte Haushalte. Nichts davon war an sich herausfordernd - Zeit war letztlich die einzig notwendige Ressource, die es einzusetzen gab. Besser bezahlte Aufgaben hatte es einige, aber sowohl die Arbeit in einem der Holzfällertrupps als auch die Unterstützung im Bergwerk erforderten mehr Kraft und Durchhaltevermögen als Fel ihr eigen nannte.

Und dann die Dunkelelfen, das Gespräch in tiefen Schatten vor bröckelnden feuchten Ziegelmauern: süße Versprechen, zusammengewoben mit scharfen Drohungen. Zuckerbrot und Peitsche, die gebende und die bestrafende Hand, beide jeweils ausgestreckt in der vermeintlichen Verheissung einer Wahlmöglichkeit.
Die Gefahr, obgleich sie das Herz Fels zur Eile trieb, hatte etwas eigenartig Vertrautes, rührte an fast verblassten, ungeliebten Erinnerungen früher Tage. Damals schien jeder Tag von Giganten beherrscht, die aus einer Laune heraus Leben oder Tod brachten. Meist war es besser sich zu ducken, in den Schatten zu verweilen, unaufällig bis die prüfende Aufmerksamkeit vorübergezogen war.

'Aber nicht hier. Nicht mit Kreaturen, die in die Schatten verbannt wurden und darin lebten, bis sie selbst ein Teil davon wurden.'

Und doch, nun, da die Gedanken ruhelos über die Ereignisse, die gewechselten Worte und die Eindrücke des Abends kreisten, vermochten sie nicht anders als sich auf Details zu fokussieren, Muster und Möglichkeiten gleichermaßen an die Oberfläche zu zerren. Die Umstände waren .. ähnlich.

'Ich bin nicht mehr, wer ich damals war. Nicht ganz.'

In der vermeintlich glatten Front hatte es Spannungen gegeben. Noch keine Sprünge, noch keine Risse, aber vielleicht, wenn an der richtigen Stelle ein wenig gebohrt, ein wenig erprobt wurde ..

Der Schlaf mochte auch nach dem Ende des Regens nicht kommen, aber Fel träumte nichtsdestotrotz.

Jeden Tag wurden die Nächte ein wenig länger: Was im Sommer nach ein gemütlicher Spaziergang bequem nach Sonnenaufgang gewesen war, hatte sich spätestes mit der Ankunft des Herbstes gewandelt: Dieser Tage schlich Fel in einen dicken Mantel gewickelt noch vor dem ersten Licht aus dem Tor Nebelhafens, fröstelnd in der klammen Kälte und darauf hoffend, dass die Stiefel einen weiteren Übergriff von Tau überstehen würden. Es war immerhin die richtige Jahreszeit für die Suche nach gewissen Moosen und Pilzen, die sich im abgeworfenen Laub der Bäume versteckten - aber dieses offene Geheimnis trieb auch genug Konkurrenz an, dass die zurückzulegenden Wege jeden Tag ein Stück weiter wurden. Nur abseits der ausgetretenen Pfade und der bequemen Wildwechsel ließ sich noch ergiebige Beute machen aber das wiederum zog die Stiefel zusätzlich in Mitleidenschaft.

Andere, dessen war Fel sich nur zu bewusst, drehten sich zu dieser Stunde noch einmal im Bett um. Das war eine Lektion, die sie bereits früh gelernt hatte: Manche besaßen eine Begabung aus der sie - im übertragenen Sinne - Geld machen konnten: Geschickte Hände, blitzschnelle Auffassungsgabe, eine robuste Natur oder natürliche Streitlust. Andere hatten eifrige Lehrmeister, bemühte Tutoren und geduldige Patrone. Einige vereinten gleich Beides miteinander und vermochten auf diese Weise über sich und ihre Anlagen hinauszuwachsen, reiften zu inspirierenden Koryphäen, zu bedeutenden Anführern oder zumindest bewunderten Handwerkern heran.

In diesen Gedanken lag eine Erkenntnis, die auch jetzt, Jahre nach dem ersten Bewusstwerden noch immer stach: All das war ausserhalb von Fels Reichweite.

Dabei, so sinnierte sie, während sie sich unter dichten Brombeergestrüpp duckte und taufeuchtes Moos behutsam von einem toten Baumstamm entfernte der beinahe vollkommen überwuchert worden war, war das weniger eine Frage der Bereitschaft, als schlicht eine Frage des fehlenden Talents: Kein Geschick für Handwerk, eine gewisse Zielstrebigkeit aber ohne die brilliante Auffassungsgabe, die Andere auszeichnete, generell eine gewisse .. Langsamkeit, vermutlich irgendwo auf den Anteil des elfischen Erbes zurückgehend: Für das alte Volk spielten ein paar Jahre oder sogar Jahrzehnte vermutlich keine Rolle.

'Es ist als hätte ich das Schlechteste von beiden Seiten bekommen. Kein Fisch und kein Fleisch, irgendetwas in der Mitte.'

Unter dem dichten Moos verbarg sich dichtes, weissliches Pilzgeflecht, dem Fel nun sorgsam zuleibe rückte: Die Berührung von Metall, so hatte man es ihr eingeschärft, würde die besonderen Eigenschaften ebenso ruinieren wie der Einfluss direkten Sonnenlichts. Genauso verboten war jedoch auch der direkte Kontakt mit der Haut, in diesem Falle jedoch nicht wegen eines etwaigen Schadens für den Pilz: Der "austreibende Bortenträger" war berüchtigt dafür auch lebendes Gewebe zu befallen und die farbigen Schilderungen hatten Fel beinahe genug abgeschreckt. Beinahe. Aber die Miete zahlte sich eben nicht allein.

Der Fund blieb an diesem Morgen der Einzige dieser Art, aber der freie Streifzug hätte sich dennoch ausgezahlt, wenn Fel dann nicht ein Loch in der Sohle ihrer Stiefel entdeckt hätte. Das ruinierte die Bilanz des Tages bereits nachhaltig und gemahnte sie einmal mehr daran, dass es im Wettrennen gegen den kommenden Winter nur einen Sieger geben konnte.

'Also alles auf eine Karte.'

Knappe drei Stunden später wurde in der Bank von Solgard ein Schreiben hinterlegt, die letzten Münzen investiert in frische Tinte und ein neues Stück Pergament.

An Livius Quintus,

Oberster Hüter der Bewahrer

Ich habe Euren Antwort auf meine Aushänge mit Aufmerksamkeit studiert. Vielen Dank dafür: Die Ausführungen haben mir bereits erlaubt einiges an meinen Schlüssen bezüglich der Pfade und ihrer Eigenschaften zu korrigieren und zu ergänzen.

Ihr habt das Interesse ausgedrückt solche Gespräche auch auf andere Themen auszuweiten. Ich würde Euch hier gern beim Wort nehmen und erbitte hiermit Eure Zeit für eine persänliche Unterredung - zunächst einfach um Erwartungen und Möglichkeiten kurz zu diskutieren. Ich bin mir bewusst, dass Eure Zeit wertvoll ist, würde mich bezüglich eines Termins - und Treffpunktes daher ganz nach Euch richten.

Mit den besten Grüssen

Fel Maris

Den ganzen Tag über hatte der Sturm bereits am Horizont gegrollt: Ein dumpfes, beleidigt wirkendes Rumpeln wie von unterdrückter Wut, gefangen in einem Band dunkler Wolken.

Dem Betrieb am Hafen tat das keinen Abbruch, nur dann und wann äugten Seeleute herüber, um abzuschätzen, wie viel Zeit noch blieb, um Ladung zu löschen oder einzubringen. Der Sturm, so hatten sie gelernt, war letztlich eine Kraft wie die Gezeiten oder die Strömungen - vielleicht etwas unberechenbarer, aber letztlich in gleicher Weise unvermeidbar. Das hinderte sie nicht daran Gesichter in den sich zusammenballenden Wolken zu suchen, einen Willen hinter den Winden, dem trommelnden Regen und den zuckenden Blitzen.

Seeleute, so dass Fel stets gefunden, waren ein abergläubisches Volk, immer bereit Geschichten zu spinnen über zürnende Geister des Meeres, über verfluchte Schiffe und rastlose Suchen nach Schatzkisten.

Früher, in einer Zeit, die ihr nun wie ein anderes Leben erschien, war das mehr von Bedeutung gewesen als dieser Tage, da sie sich hütete, einen Fuß auf irgendein Schiff zu setzen. Nicht wegen Aberglaube natürlich - nur aus einem gesunden Gefühl von Respekt heraus.

'Und doch bin ich hier.'

Wie gewöhnlich war der Tag von Pflichten gefüllt gewesen: Die Prüfung von Ladungslisten in einem schäbigen kleinen Kontor ganz am Rande des Hafens, das den Eindruck erweckte aus Treibholz und Trümmern zusammengesetzt worden zu sein und nun nur dank störrischer Hoffnungen des Eigners von einem Tag auf den Anderen überlebte. Die Aufsicht über einen vertätschelten winzigen und überaus schlechterzogenen Hund, der in selbstmörderischer Kühnheit alles ankläffte, was sich ihm näherte und mit bemerkenswerter Aggression nach Stöckchen, Fingern und Steinen schnappte. Der Transport ganzer Körbe mit Wäsche, die nur darauf wartete, anschließend gefaltet und gelegt zu werden.

Dazwischen hatte es wenig Zeit gegeben, über die Wendungen und Ereignisse der letzten Tage nachzusinnen, über den Impuls von Veränderung, der sich heute - so war zumindest der Plan - in einem vorläufigen Höhepunkt entladen würde. Dabei waren diese Entwicklungen von überwältigender, den ganzen Alltag bestimmender Bedeutung: Das kleine Zimmerchen, welches sie sich nun mit Veronica teilte, war nicht sehr viel günstiger als die winzige Dachkammer, aber es erlaubte eine gewisse Luft zum atmen, war geräumig genug für einen richtigen Tisch und ein paar Stühle. Bis jetzt hatte sich die kleine Wohngemeinschaft als unkompliziert erwiesen, auch wenn die raue Nachbarschaft künftige Probleme erahnen ließ.
Das Gespräch mit Livius Quintus war schließlich der letzte Anstoß gewesen, hatte den entscheidenden Impuls für den Entschluss geliefert, der dazu führte, dass Fel nun, während die Sturmfront nahte, auf einem winzigen Ruderboot im Hafenbecken Nebelhafens ausharrte.

Eigentlich, dessen war sie sich nur zu bewusst, hätte dies eine Konfrontation auf hoher See sein müssen, heroisch auf Deck eines größeren Schiffes, das sich wagemutig - und trotzig - in den Einflussbereich des Sturms wagte. Das kleine Ruderboot im Hafenbecken war die realistische und halbwegs kostengünstige Variation.

'Irgendwann sollte ich lernen zu schwimmen.'

Die ersten Ausläufer der Sturmfront wühlten das Wasser auf, sprühten Gischt und trugen Regen mit sich, der Fel binnen weniger Momente bis auf die Knochen durchnässte. Es war kalt, kälter als sie erwartet hatte, aber nun war es zu spät für einen Rückzieher.

Letztlich war es nicht der Sturm gewesen, der die “Siebentrutz” ihre Existenz gekostet hatte, sondern etwas darin, eine Kraft, die die Magie Jerwalsons verbog und deformierte, sie ausschlagen ließ, bis ihre Berührung Metall zu Wasser und Holz zu Nebel wandelte. Auch jetzt, Monate später, war Fel unbegreiflich, welche Prinzipien dahinter standen, welche Mechanik eine solche Verschiebung verantworten konnte. Aber diese Fragen konnten warten: Damals hatte sie überlebt, willkürlich und zufällig, eine Laune des Schicksals, die in erbarmungsloser Gelassenheit eines von einhundert Leben verschont hatte.

Heute war sie zurückgekommen, um einen Pakt zu schließen und schrie die Herausforderung, das Angebot gegen das Heulen des Sturms und das Donnern der Blitzschläge.

"Ich wähle diesen Pfad! Den Weg zwischen den Wegen! Zu verstehen und aufzudecken, zu erforschen und zu begreifen. Nie zufrieden zu sein und nie innezuhalten. Nicht allein für mich, sondern für jene, die nach mir kommen."

Zu kalt. Andere Worte, sorgsam vorbereitet und auswendig gelernt, erstarben auf zitternden Lippen und schnatternden Zähnen - im Herzen des Sturms, sich an die Wände des schwankenden Ruderbootes klammernd und überschüttet von eisigem Regen verstand Fel, dass sie ihren vorbereiteten Vertrag nicht loswerden würde: Der Sturm war zu überwältigend.

Aus der Furcht dämmerte Einsicht und ein Moment von Inspiration. Vier weitere kurze Sätze wurden gegen das Grollen geschrieben.

"Weisheit über Willkür!
Fortschritt über Tradition!
Wahrheit über Täuschung!
Gemeinsinn über Eigennutz!"

Etwas funkelte in der Dunkelheit des Sturms, blaues Elmsfeuer das knisternd erwachte, auf den hochgezogenen Bordwänden des kleinen Ruderbootes tanzend. Und für einen Moment, während sie auf die unruhigen, sich dem Sturm widersetzenden Funken starrte, sich weiter mit aller Kraft am Holz festklammernd, glaubte sie von irgendwo aus dem Sturm die Stimme ihres früheren Mentors zu vernehmen.

"Diese Worte .. werden angenommen."

Fels Vorahnungen hatten sich bestätigt: Mit dem Voranschreiten des Herbstes waren die Preise gestiegen und die Greifen zeigten keine Ambition dieser Entwicklung in irgendeiner Weise Einhalt zu gebieten. In Teilen war das nicht verwunderlich: Sie waren – letztlich – eine an Gewinn interessierte Organisation und mit den nach oben wandernden Kosten waren eben auch entsprechende Abgaben, Steuern und Gebühren verbunden.

Das verschlechterte Wetter ließ im gleichen Zug die Nachfrage nach Arbeit sinken und mit steigendem Mangel und wachsendem Druck ging die Bezahlung der Tagelöhner nur zurück. Das, so notierte die Halbelfe ganz nüchtern im Licht einer unruhig flackernden Talgkerze, wäre schon vor mehr als zwei Wochen genug gewesen, um eine harte Entscheidung einzufordern: Entweder wohnen mit einem Dach über dem Kopf – oder Essen.

'Oder Solgard.'

Dass sich die Frage nicht akut gestellt hatte, war nicht etwa Fel selbst zu verdanken, sondern einer puren Laune von Glück, die – natürlich – ganz unvermeidlich mit dem Unglück eines Anderen einherzugehen hatte. Nur der Tod von Meister Konstantin Pherendanz hatte dafür gesorgt, dass aus der flüchtigen Bekanntschaft mit Veronica eine behutsame Freundschaft zu sprießen begann, dass die erstaunlichen Gemeinsamkeiten und die sehr viel weniger verwunderlichen Unterschiede auf eine Art und Weise zusammenpassten, die dafür sorgte, dass es nun ein gemeinsam bewohntes Zimmer in der kleinen Arbeitersiedlung gab.

Die Kosten dafür waren nicht zu vernachlässigen, aber immerhin stabil und drohten nicht länger jede Woche neue, dieses Mal unerreichbare Höhen zu erreichen.

Die Wirkung ging aber darüber hinaus: Auch wenn die Tage weiterhin von harter, ungeliebter Arbeit gefüllt waren, blieb damit dann doch noch Raum dafür einmal durchzuatmen, um die eigenen Aufzeichnungen zu sichten, die viel zu lange keine Ergänzungen und Korrekturen erfahren hatte, um neue Texte in die Notizen aufzunehmen. Jeder Morgen brachte neue Fragen und die Möglichkeit von Antworten, oft ausgedrückt durch Fragezeichen hinter umkringelten Worten auf geduldigem Papier.

Alles in allem, so musste Fel anerkennen, hatte sich ihre Lage beträchtlich verbessert: Die Wohnstatt gesichert, der regelmäßige Kontakt mit dem Herren Quintus zur Diskussion allfälliger Fragen, eine kleine Gruppe von .. Bekannten, die von anderer Seite bereits als „Freunde“ bezeichnet worden waren. Die letztliche Wahl eines Pfades.

All die Möglichkeiten, die aus diesem vereinten Bodensatz wuchsen.
All die Gefahren aus den weniger offensichtlichen Nebenbedingungen.

Die Untersuchung des Drachenherzens und des Drachenblutes hatte sich als interessant, aber wenig ergiebig erwiesen: Ein fähiger Alchemist hätte etwas aus beiden Materialien schaffen können, aber Fels Kenntnisse dieser Kunst waren so gering, dass sie kaum über das Verkochen von Wasser über einem Brenner hinausgingen. Die Literatur hatte sich hier als interessanter erwiesen und letztlich zu völlig anderen Fragen geführt, wie alle angeführt von einem "Warum?"

Warum funktionierte all das? Warum gab es so viele unbedeutend erscheinende Abweichungen in Details, die aber – wenn man sie dann ganz genau betrachtete – geradezu auf systematische Unverträglichkeiten hindeuteten? Wer hatte all das bereits einmal erforscht und bewertet?
Je mehr Fel über solchen Details brütete, desto mehr verdichtete sich alles auf eine Frage hin:

"Warum funktioniert das überhaupt?"

Zumindest in der Theorie vermochte Fel den Umfang des Feenwaldes zu erfassen: Im Süden begrenzt durch die schroffen Kanten der Trollschluchten, im Osten bis an das Ufer der Nebelbucht ragend, im Westen begrenzt durch das in Sumpf übergehende Jagdrevier der Orks. Auf einem Pergament machten die Linien und schraffierten Farben durchaus Sinn: Wege. Wald. Lichtungen. Eine alte Ruine, hübsch illustriert mit dem Symbol eines geborstenen Helms.

Karten versprachen Ordnung. Karten verkündeten den Sieg des Forschers über das Ungebändigte, über das Ungemessene und Unbekannte durch das Anlegen von Maßstäben und die Vergabe von Namen. Die Zähmung der Wildnis war in dem Moment vollkommen, in dem der letzte verwinkelte Strom bis zu seiner Quelle zurückverfolgt und dann in einem glorreichen Moment, für die Geschichtsbücher verewigten Moment, "Bierbach" getauft wurden.

Nichts davon war geeignet gewesen, um Fel auf das Naherlebnis des Feenwaldes vorzubereiten. Alles hier war Chaos, übergangslos ineinander übergehendes Grün, das ohne Plan und Ziel wucherte. Wege öffneten sich nur um später als Wildwechsel im Schatten des allgegenwärtigen Grüns zu versickern, dichtes Gesträuch reckte sich auf Lichtungen, trieb Blüten aus, die dem Lauf der Sonne folgten.
Und es war laut: Eine nie ferne Kakophonie ungezählter Stimmen, gewoben aus Triumphen und Niederlagen, so vielgestaltig und gleichzeitig beständig wie das Grün selbst.

'Wenigstens ein Teil von mir sollte etwas drin finden. Muster. Vertrautheit. Gewissheit.'

In Wahrheit spürte Fel nichts davon, während sie durch das Zwielicht des Waldes stolperte, über gefallene und moosbewachsene Baumriesen kletterte, vergeblich den Ursprung eines kleinen Bachs suchte, nur um dann, nach gefühlten Stunden des verwirrten Herumirrens mit dem ersten Schritt zurück wieder dort zu stehen, wo sie ihre Reise begonnen hatte.

'Wie kann das sein? Das widerspricht jeder Logik. Ich sollte einen Vorteil hier haben und stattdessen bin ich noch unbeholfener als Fenrik.'

Der Gedanke kam mit einem allzu vertrauten Gefühl von Scham, ergänzt durch einen Funken von Zorn.

Noch vor einem Jahr hätte Fel hier aufgegeben, sich die Niederlage eingestanden und dann reumütig nach Hilfe gesucht. Diese Fel hätte akzeptiert und sich bescheidet, geschluckt und gelächelt, wo Tränen angebrachter gewesen wären.

"Heute nicht. Du wirst mir das nicht madig machen. Das ist ein besonderer Tag, einer, den ich in Erinnerung behalten werde. Der Tag an dem ich nicht aufgebe, mich nicht entmutigen, mich nicht verscheuchen lasse. Ich werde die Knospe finden!"

Für den Feenwald war es ein Samstag.

Er blieb indifferent, unbeirrt, unbeeindruckt, unverändert im stetigen Wandel, selbst über den Moment hinaus, als die zornige Halbelfe schließlich doch aufgab, zu erschöpft um weiter zu versuchen diese spezielle Lichtung zu finden und sich, genau wie zuvor, nur ein Halbdutzend Schritte vom Reisepunkt entfernt wiederfand.

"Eure Anwesenheit ist hier generell nicht erwünscht. Geht zu den Edain, doch meidet unsere Länder. Ihr gehört nicht hierher."


Trüber Nieselregen versprühte eben genug Feuchtigkeit um die Dächer im Nebelhafen feucht glänzen zu lassen. Aufgeweichte Wege erinnerten unglückliche Passanten bei jedem Schritt daran, dass dies keine Metropole war, keine Stadt, die solchen Wetter die spröde Schulter sorgsam gepflasterter Straßen und Gassen zeigte, sondern ein auf älteren Fundamenten erbauter und ein wenig ausgeuferter Handelsposten. Zumindest theoretisch war eine solche Ansiedlung auf Effizienz und die Bedürfnisse des Handels hin ausgerichtet, was gemeinhin bedeutete, dass das ganze Leben und Handeln der Stadt um Hafen, Marktplatz und Hauptwege herum rotierte.

Und doch lag der Hafen, der der ganzen Siedlung ihren Namen verliehen hatte, zu dieser Stunde nahezu vollkommen still, kaum ein Licht schien aus den verschiedenen Hütten, Zelten und Wägen unweit, die immer ein wenig den Eindruck erweckten, als hätte die letzte Flut sie hier einfach ungeordnet an Land gespült. Alles atmete den Charme eines Provisoriums kurz vor dem Zusammenbruch aus, zur Permanenz verpflichtet in der Erwartung einer Ablösung, einer Verbesserung, die nie kommen würde.

'Selbst sie haben darin eine Bestimmung.'

Selbst jetzt, Stunden später, lange nach der stillen, beschämten Flucht aus den Tiefen des Feenwaldes, stachen die Worte des Lichtelfen. Wie eine weißglühende Klinge hatten sie sich tief in das Herz gebohrt, altes, vernarbtes Gewebe aufgerissen, das nun ohne Unterlass zu bluten schien.

'Als hätte ich nur darauf gewartet. Verdammter B....'

Selbst in Gedanken vermochte Fel die Beleidigung nicht zu vollenden, scheute zurück vor der Grobheit, vor dem drohenden Ausbruch und starrte stattdessen auf die vom Nieselregel eigenwillig geglättete Oberfläche des Meeres. Und selbst jetzt wunderte sich ein Teil von ihr darüber, welchen Namen dieses Wasser wohl auf den offiziellen Karten tragen würde.

Diese Neugier hatte sie auf allen Irrwegen durch den Feenwald begleitet, war bei ihr gewesen bei jedem Schritt auf der Suche nach Shiras Knospe und der Lichtung darum. Als sich Fehlschlag an Fehlschlag reihte, war es aber nicht die Neugier gewesen, die ihr verboten hatte nach Hilfe zu suchen, die gefordert hatte nicht aufzugeben. Purer Trotz hatte den Verstand abgeriegelt, die Emotionen aufgebauscht. Noch ein Versuch. Nur noch einer.

Letztlich vergeblich: Es hatte die Ankunft Eliras und Cillians gebraucht, dazu die Begleitung einer bislang gänzlich unvertrauten Hochelfe namens Nyriel, damit Fel den Platz schliesslich wiederfand.

"Eure Anwesenheit ist hier generell nicht erwünscht. Geht zu den Edain, doch meidet unsere Länder. Ihr gehört nicht hierher."

Worte, das hatte sie bereits früh gelernt, waren aus sich selbst heraus bedeutungslos, nur mit der Macht beseelt, die ihnen eingeräumt wurde: Sowohl von dem, der ein Ultimatum aussprach oder Gefolge einforderte, als auch von dem, der sein Haupt beugte oder nach einer Zurückweisung erzitterte. Die Zeit auf den Straßen Breitenbachs war ein kalter Lehrmeister gewesen, ungnädig und erbarmungslos, hatte Fel ein um das andere Mal gezeigt, wie Worte und Taten einen Einklang erforderten und wie sich mit dem Einen das Andere vortäuschen ließ.

Und dennoch: Der Schmerz war nicht zu leugnen, ließ sich nicht davonlächeln oder überspielen.

'Weil es wahr ist. Selbst der Wald wusste es: Ich gehöre nicht dorthin.
Aber ich gehöre auch nicht hierher.
Es gibt keinen Platz für mich.'

Und während der Regen über Nebelhafen allmählich stärker wurden, richteten die Gedanken der Halbelfe sich in die Vergangenheit, streiften erneut den Tag an dem die kleine Hütte leer gewesen war. Den Tag an dem die blinde Seherin dem Galgen überantwortet wurde. Den Tag eines Handels mit einem Mann, dessen Selbstverachtung seine Brillianz noch überstieg. Den Tag eines stillen Verrats an allzu lang gepflegter Hoffnung.

Etwas .. regte sich in Fel, ein unwillkürlicher Reflex, der die Gedanken aus der selbstgewählten Trübheit riss und zu einem anderen Tag zurückführte, einer, der voller Verheissung und Versprechen gewesen war, zurück in ein Zelt, in dem eine alte Frau Karten mischte und sie verdeckt vor Fel auslegte.

"Vergangenheit und Gegenwart sind benannt. Das hier ist der wahrscheinlichste Pfad deiner Zukunft. Eine Karte beschreibt das Schicksal. Eine zweite beschreibt, was dir dabei hilft. Die dritte schliesslich ist das größte Hindernis auf deinem Weg. Deck auf."

"Woher weiss ich, welche der drei für was steht?"

"Das ist fast die beste Frage die ich in diesem Zelt in diesem Jahr gehört habe. Nun decke auf, Kind. Ich werde es für dich erläutern."

Dieses Mal gehorchte Fel und deckte die drei Karten nacheinander auf.

"Der Gehängte. Der Magier. Der Stern."

"Interessant. Ich habe selten eine so klare Kombination gesehen: Deine Zukunft ist der Stern: Du wirst dein Glück, deine Bestimmung finden. Der Stern ist ein machtvolles Zeichen der Hoffnung und Erfüllung. Interessanterweise steht er auch für das Elfenvolk. Das ist überaus gut und könnte bedeuten, dass du letztlich auch hier dein Schicksal findest.
Dir zur Seite steht dafür der Magier, dessen Anleitung und Weisung dich auf den richtigen Weg bringt.
Hüten musst du dich vor dem Gehängten, der hier fast schon wortwörtlich genommen werden muss: Das ist das argwöhnische Auge des Gesetzes, das alles verderben kann, was dir der Stern verheißt."

Die Erinnerung trieb zurück in das Zwielicht ungeformter Gedanken und möglicher Ideen, umrankt von anderen, daran geknüpfter Gedanken, hinterlassen in Aufzeichnungen, die dem Zorn des Meeres zum Opfer gefallen waren.

'Ich habe es nie geglaubt. Schon damals spürte ich die Diskrepanz, die Ungewissheit. Denk nach. Es gibt nicht so viele mögliche Kombinationen. Welche davon ist die Richtige? Welche ist die Richtige?'

Es regnete weiter und der trübe, wolkenverhangene Nachthimmel Nebelhafens sah gleichmütig hinab auf die erschöpfte, schon lange durchweichte Halbelfe am äußersten Rand des ins Meer führenden Stegs, die verbissen versuchte ein Rätsel zu lösen, das sich dem Begreifen immer entziehen würde. Und hätte dieser Nachthimmel ein Numen besessen, dann hätte dieses sich vielleicht dazu bewegt gefühlt (mit der Stimme eines gewissen L.Q.) einen spöttischen Kommentar abzugeben über Menschen - und Menschenähnliche - die sich selbst zu ernst nahmen.

"Bringt mir nur den Kopf von Golga von Assuan. Oder, noch besser, ihn lebend. Dann lasse ich Euch sogar nach Caladlorn ein."


Die Scham folgte dem Zorn bereits in dem Moment als Fel die Füße über die Schwelle des Gasthauses setzte, hinausfloh in den winterkalten Abend Nebelhafens und den trüben Nebel, der träge über mit Raureif überzogenen Wegen hing. Die Wolken, die noch am späten Nachmittag Regen angedroht hatten, waren abgezogen, hatten den Himmel aufklaren lassen.
Zu einem anderen Zeitpunkt hätte die Halbelfe den vielfachen Glanz der Sterne sicherlich mit einer gewissen Neugier honoriert, aber jetzt führten rasche Schritte sie weiter.

Zur kleinen, mit Veronica geteilten Wohnung? Unmöglich.
Zu den Docks und den dort dem Wetter trotzenden Zelten, wo alle dieser Tage andere, eigene Sorgen hatten? In gleicher Weise mehr als unangemessen.

Also führte die Flucht sie in die Tiefe, hinab durch den Keller der Falkenrast in die klamme Feuchtigkeit der Unterwelt Nebelhafens - Eingeweide, die schon lange vor dem Handelsposten hier gewesen waren und vermutlich auch nach ihm noch da sein würden. Manche der tropfenden Gänge waren hoch und so breit wie schiffbare Kanäle, andere duckten sich sehr viel enger zusammen, boten Moosen und Algen allerlei Lebensraum. Kaum ein Platz, an dem sich nicht die Schritte von Ratten vernehmen ließen.

All das war Fel auf schwer zu greifende Art und Weise .. vertraut. Nicht, weil sie bereits viel Zeit hier unten zugebracht hätte, sondern in der Art, wie sich ähnliche Erfahrungen auf neue, unbekannte Umstände übertragen ließen. Auch im Berg hatte es Feuchtigkeit gegeben, stetig von der Decke tropfend, Ratten und anderes Getier durchwanderten die steinernen Gedärme der längst aufgegebenen Bergwerksbereiche hinab in jene Tiefen, in denen auch dieser Tage noch gearbeitet wurde.

Im Berg hatten die Verurteilten die Steine gebrochen und nach oben gekarrt, ohne bis zum Ablauf ihrer Strafe je wieder das Tageslicht zu sehen. Hier, in den Tiefen unter Nebelhafen, wurde weder nach Quarzen noch nach Metallen geschürft, aber trotzdem gab es hier Menschen: Glücklose und Verzweifelte, Gierige und Unangepasste. Manche, die ein Sturm hier hinab gespült hatte und Andere, die hier freiwillig lauerten.

Und trotz des Gefühls der brennenden Demütigung, erbaut aus dem Zusammenwirken gleich dreier so grundverschieden wirkender Männer, erinnerte sich an Teil von Fel an eine nicht unähnliche Flucht vor mehr als einem Vierteljahrhundert, an die Panik in den enger und enger werdenden Stollen und schliesslich Rissen im Felsen, durch die sich selbst ein für die Jahre ungewöhnlich kleines Kind letztlich nicht mehr zu quetschen vermochte. Wie damals trug sie auch heute weder Fackel noch Laterne bei sich, aber dieser Tage war die Magie ein vertrauter Begleiter, der die Dunkelheit zurückhielt.

'Wie habe ich damals etwas gesehen? Magie? Aber das war vor meinem Erwachen, war es?'

Der Gang, dem Fel gefolgt war, geduckt auf den letzten zwanzig Schritten, öffnete sich in eine Kreuzung mit drei abgehenden Kanälen, alle nicht breiter als die Schultern eines Mannes und nur halb so hoch. Ein Funke von Licht aus dem Rechten versprach irgendeine Form von menschlicher Präsenz, also duckte Fel sich nach links, folgte dem Lauf gurgelnden Wassers in diese Tiefe und wartete darauf, dass der zähe Klumpen ohnmächtiger Demütigung sich allmählich in klamme Resignation verwandelte.

Die kalte Abweisung des Lichtelfen war nach dem letzten Zusammentreffen nicht unerwartet gekommen, aber heute hatte sich eine besondere, fast schon persönliche Qualität dazugesellt. Jede einzelne seiner spitzen Bemerkungen war wie der Stoß eines Rapiers - immer auf die Schwachstellen zielend, nicht darauf aus zu töten, sondern zu verwunden.

'Zu demütigen.'

Das allein - so redete sich sich zumindest ein, während sie einen halb aufrechtführenden Gang emporkletterte, hinweg über von Algen bewachsene Stufen und vorbei an in die Wände eingelassenen Bronzerohren, die ins Nirgendwo zu führen schienen - wäre kaum ausreichend gewesen um ihre Beherrschung zu brechen, aber dass die Herren Feldspan und Tyladriel sich schliesslich gefallen hatten noch selbst in bereits gerissene Wunden zu stechen: Das hatte das Faß zum überlaufen gebracht.

Und in dem Moment war Flucht die einzige Lösung vor dem aufkochenden Zorn und der unmittelbar folgenden Schuld.

'Ich hätte darüber stehen sollen. Ein paar seichte Scherze, eine Flasche Wein. Ist das nicht, was ich gelernt habe? Die Lügen sind leicht. Nur die Wahrheit schmerzt.'

Zu spät wurde Fel bewusst, dass sie, sich den Kopf zerbrechend, unwillkürlich doch einem der vagen Lichter gefolgt sein musste bis hier zu dieser Kammer, in die sie aus der Wandöffnung heraus stolperte in ein behelfsmässiges Lager voller Kisten und Säcke. Hehlerware, zur Seite geschafft unter Umgehung der Greifen, vorbei an der ohnehin schon laxen Hafenaufsicht. Drei Augenpaare starrten herüber auf die durchnässte Gestalt, im ersten Moment verplex, dann alarmiert. Eben noch zwischen den Fingern gehaltene Karten fielen auf ausgelegte Bretter hinab, während nach einem Messer gegriffen wurde.

Und Fel spürte, noch während sie einen halben Schritt zurückwich, wie aller Schmerz und alle Scham sich lösten. Das hier war, in vielerlei Hinsicht, so vertraut wie die Rückseite der eigenen Hand.

"Kalle sagt in der Drecksbude findet man nichts."

"Was?"

Der Moment der Irritation war genug, um ihr den eiligen Rückzug zu ermöglich, zurück in das enge Rohr, zunächst nur gefolgt von einem Fluch, bevor die drei sich an die Verfolgung machten. Schon nach einem Halbdutzend Schritten war Fel sich gewiss, dass keiner der Häscher sie hier einholen würde.

'Vielleicht ist das ja der richtige Ort für mich. Im Dunkel, wo die Sonne mich nicht sehen muss.'