Fel Maris: Unterschied zwischen den Versionen

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Breitenfurt, dieser Tage die größte Stadt der Grafschaft Siebensteig, war mit den acht Tugenden im Kopf gegründet worden. Davon zeugten auch dieser Tage noch die acht Türme der inneren Mauer, die jeweils die Namen eines der Erzengel trugen. In den Jahrhunderten seit der Grundsteinlegung war die Stadt weit über die Grenzen dieses Kern hinaus gewachsen, hatte die namensgebende Furt vollkommen gezähmt und überbaut, auch das andere Seite des Ufers der Usser mit einverleibt um schließlich selbst die Grafenstadt Beiring in den Schatten zu stellen - zumindest wenn man allein die Einwohner zählte.
Breitenbach, dieser Tage die größte Stadt der Grafschaft Siebensteig, war mit den acht Tugenden im Kopf gegründet worden. Davon zeugten auch dieser Tage noch die acht Türme der inneren Mauer, die jeweils die Namen eines der Erzengel trugen. In den Jahrhunderten seit der Grundsteinlegung war die Stadt weit über die Grenzen dieses Kern hinaus gewachsen, hatte die anliegende Furt vollkommen gezähmt und überbaut, auch das andere Seite des Ufers der Usser mit einverleibt um schließlich selbst die Grafenstadt Beiring in den Schatten zu stellen - zumindest wenn man allein die Einwohner zählte.


Die große Spaltung hatte Breitenfurt zum wichtigsten Verbündeten Beirings gemacht und damit zu einem konservativen Vertreter einer Ordnung von Recht und Gesetz. Aus dem Sinnbild der acht Erzengel waren im Laufe der Jahre Posten gewachsen, die mit der tatsächlichen Kirche des Herrn nur sehr, sehr lose verbunden waren. <br>
Die große Spaltung hatte Breitenbach zum wichtigsten Verbündeten Beirings gemacht und damit zu einem konservativen Vertreter einer Ordnung von Recht und Gesetz. Aus dem Sinnbild der acht Erzengel waren im Laufe der Jahre Posten gewachsen, die mit der tatsächlichen Kirche des Herrn nur sehr, sehr lose verbunden waren. <br>
Aus der Gründerzeit blieb jedoch die Tradition erhalten, dass diese “Wahrer” nicht nur spezielle Aufgabengebiete in der Stadt zu erfüllen hatten, sondern darüber hinaus aus den Reihen ihrer Gefolgschaft legitimiert, erhoben - also gewählt wurden.  
Aus der Gründerzeit blieb jedoch die Tradition erhalten, dass diese “Wahrer” nicht nur spezielle Aufgabengebiete in der Stadt zu erfüllen hatten, sondern darüber hinaus aus den Reihen ihrer Gefolgschaft legitimiert, erhoben - also gewählt wurden.  



Version vom 29. Mai 2024, 21:01 Uhr

Auf den ersten Blick

Die Körpergrösse von ungefähr 165 Halbfingern ist von unaufälliger Normalität, die gesamte Gestalt wirkt recht filigran, die Züge erscheinen prägnant geschnitten und verraten bereits das gemischte Erbe, das sich in den fein angespitzen Ohren noch deutlicher ausdrückt: Fel ist ohne Mühe als Halbblut eines menschlichen und eines hochelfischen Elternteils zu identifizieren.

In den blauen Augen findet sich offenes Interesse, gemildert durch Wachsamkeit. Wenngleich nicht unangemessen nervös, wirkt sie wie jemand, der gern über die eigene Schulter sieht, stets getrieben von immer präsentem schlechten Gewissen.

Das rotblonde Schopfhaar wird nur selten offen getragen und lockt sich bei der geringsten Feuchtigkeit, formt damit einen ungehorsamen Gegensatz zur moderat unaufälligen Kleiderwahl.

Das gemischte Erbe macht es schwer durch das Aussehen allein ihr Alter einzuschätzen: Sie ist ohne Zweifel erwachsen, darüber hinaus erlaubt weitere Beobachtung von Verhalten und Gebaren die Einschätzung, dass sie sich irgendwo im Bereich zwischen Anfang und Mitte Zwanzig befinden sollte.


Eigenheiten und Merkmale

  • die linke Hand gehorcht merklich schlechter, die Finger sind unflexibel
  • Furcht vor engen und dunklen Räumen, bisweilen Alpträume die auf ihre Zwangsarbeit im Bergwerk zurückgehen

Lebenslauf

  • 417 geboren in Breitenbach
  • 428 bis 429: Arbeitsdienst im Strafbergwerk Breitenbach
  • 433 Verbannung aus Breitenbach und Ansiedlung in Grauhafen
  • 436 Anstellung im Handelshaus Telketh für einfachste Hilfsarbeiten
  • 440 Übersiedlung nach Rossensprung im Dienste des Hauses Telketh
  • 443 Beginn der magischen Ausbildung bei der blinden Seherin Myra
  • 447 Zwangsrekrutierung für die Armee entsprechend lokaler Gesetzgebung, Ausbildung durch Arngrimm Jerwalson
  • 450 Überfahrt im Zuge regulärer Dienstverpflichtungen, Schiffsbruch vor der neuen Insel, Spielbeginn

Notizensammlung

Dramatis Personae

Geschichte

"Ich verstehe das Problem nicht richtig. Die Worte haben eine ihnen innewohnende Kraft. Du musst dich einfach darauf einstimmen, dich ihrer Führung übergeben, während du gleichzeitig das Ziel des Zaubers selbst fest und bestimmt vor Augen hälst. Ich hätte geglaubt, dass gerade du damit keine Probleme hast."

Ludwig machte sich nicht die Mühe die Irritation aus seiner Stimme zu verdrängen. Er mochte Fel, aber sie war manchmal geradezu nervtötend begriffsstutzig, vor allem bei so einfachen Dingen wie den Worten der Macht. Das allein war noch kein Grund für Verärgerung, aber die Zeit für diese Art von Ausbildung war knapp bemessen und wertvoll: In den reichen Häusern Rossensprungs mochte es ja so sein, dass jemand mit der Gabe von allen Pflichten und Aufgaben freigestellt wurde, um sich ganz dem Studium dieser Kräfte zu widmen, aber das galt nicht dort, wo das Kopfsteinpflaster löchrig, die Dächer undicht und die Umgangsformen rauer wurden. Ludwigs war ein Schusterlehrling im dritten Jahr und das war es, was Essen auf den Tisch brachte. Diese Abende unter der Anleitung der alten Seherin fielen unter ein Siegel der Verschwiegenheit, zwangsläufig verborgen nicht nur vor der Obrigkeit, die mit harter Hand Loyalität und Dienst aller Zauberkundigen innerhalb der Grenzen der Stadtmauern einforderte, sondern eben auch vor dem knauserigen Schustermeister, der keine Gelegenheit ausließ um seine Lehrlinge zu schinden.

"Ich hätte gedacht, dass gerade du das verstehen solltest. Es sind nicht einfach nur Buchstaben auf Pergament, Fel. Du musst fühlen, was dahinter ist."

Fel war älter als Ludwig und schon länger eine Schülerin der alten blinden Seherin, die ihre windschiefe Hütte im Schatten der alten Mauer hatte. Rossensprung war auf unsicherem, sumpfigen Grund errichtet, die alte Mauer war ein Teil der ursprünglichen Kernsiedlung und dieser Tage zu weiten Teilen entweder versunken oder für Steine zerlegt. Nur hier und dort gab es noch Reste, die sich wie verbleibende Zähne in einem zertrümmerten Gebiss dem endgültigen Verfall entgegen stemmten.
Wer hier lebte, der tat es selten freiwillig, die Eltern in den hübscheren Viertel der florierenden Hafenstadt warnten ihre Kinder vor der Brache und den Krankheiten, die man sich dort einfangen konnte.

Mit diesen Geschichten war Ludwig aufgewachsen und auch jetzt schauderte er noch regelmäßig, wann immer er die schiefen Reste des Fischertors durchschritt und den allmählich verrottenden Planken und Hängebrücken folgte, die bis zum Haus seiner zweiten, inoffiziellen Lehrmeisterin führte.

"Du bist zu unbeweglich. Das System funktioniert nicht so. Du kannst nicht einfach nach strikten Gegensätzen schauen und diese einander zuordnen. Denk an die Brücken hier in der Brache: Sie biegen sich und schwanken, sind krumm und schief, aber sie führen dennoch meistens zum Ziel."

Magische Theorie auf dieser Ebene war für Ludwig vollkommen einsichtig, vielleicht weil er während seines gewöhnlichen Tagewerks so viel Zeit hatte, die Gedanken wandern zu lassen. Während die Finger mit Ahle, Falzzange, Klopfstein und Knieriemen beschäftigt waren, ließen sich die unverhandelbaren Komponenten der Zauber im Geist bestens zusammensetzen.

Fels Stimme ließ ihre Frustration durchklingen.
"Ich verstehe einfach nicht, warum es abweicht. Jeder der drei einfachen Schwächungszauber benutzt Nachtschatten als eine Reagenz. Jeder der drei einfachen Stärkungszauber benutzt Alraune als eine Reagenz. DES MANI zum Schwächen, UUS MANI zum Stärken. UUS WIS zum Schärfen des Geistes, aber REL WIS anstelle von DES WIS? UUS JUX meinetwegen um das Ungeschick zu erhöhen, aber dann wiederum weder DES JUX noch REL JUX, sondern EX UUS! Das letzte Paar benutzt dann immerhin passend jeweils Blutmoos, auch beim Zauber für die Geistesschärfe und die Dummheit findet sich gleichartig die Spinnenseide, aber ausgerechnet bei der Stärkung und Schwächung bricht das ganze System auf: Alraune und Schwarze Perle? Warum bitte?"

Das waren Fragen, die die alte Seherin normalerweise unbeantwortet ließ, mit einem Schulterzucken abtat, wann immer sie einem ihrer Schüler in die Quere kamen. Neugier brachte ihrer Meinung nach gar nichts: Wem half es schon zu wissen, warum genau nun bestimmte Bestandteile eines Zaubers zusammenwirkten, solange sie es taten? Zeit für solchen Firlefanz hatten nur reiche Schnösel, die nichts zu tun hatten, als über die Welt und den erstaunlichen Mangel an Frauen in ihrem Leben nachzudenken.

Und Ludwig hatte schon früh gelernt sich keine überflüssigen Fragen zu stellen.
"Ich weiß es nicht, Fel. Aber es braucht auch keine vollkommene Ordnung. Darüber hinaus hast du übersehen, dass der Schwächungszauber ebenfalls die Alraune verwendet. Das heisst in der ganz einfachen Umkehrung mit der Ersetzung von Nachtschatten durch eine Alraune, hättest du plötzlich deren zwei in Verwendung. Du brauchst also etwas anderes - oder um genauer zu sein .."

Ludwig ließ die Worte ausklingen, kapitulierend vor dem verwirrten Blick seiner Mitschülerin.
Wie sollte er etwas erklären, das sich nicht in offensichtliche starre Regeln einfügen ließ? Alles spielte zusammen, die Flexibilität des Systems bestätigte sich durch seine Wirksamkeit selbst. Wenn es scheinbar gegen hergeleitete Regeln verstieß, dann war das einfach ein Problem der Regeln, nicht das Systems selbst.

"Du wirst hier in der Brache keine Antwort darauf bekommen, Fel. Wir halten den Kopf unten und lernen was wir können. Und sobald die Alte uns für bereit hält, können wir unser Glück andernorts machen."

Wie lange würde das dauern?
Ludwig hatte keine Zweifel, dass er in wenigen Monaten alles gelernt haben würde, was die Seherin ihm anzubieten hatte. Selbst jetzt war für ihn bereits offensichtlich wie löchrig das Fundament ihrer Kenntnisse war, wie gering ihr Interesse die Magie wirklich zu verstehen. Fel dagegen hatte - unbegreiflich für ihn - Mühe selbst diese kleine Barriere zu nehmen. Sie war schlau genug und darüber hinaus bereits erwachsen, das alles hätte ihr einen Vorteil geben sollen, aber ein um das andere Mal fand Ludwig sich dabei Erklärungen abzugeben, die in ihrer Tiefe auch seine Erfahrungen letztlich überstiegen.

Nicht, dass es ihn störte: Er mochte Fel und ihre Aufmerksamkeit war angenehm. Beflügelnd. Trotz ihrer hartnäckigen Schwierigkeiten mit der Flexibilität und Beweglichkeit des Systems der Magie. Er würde das, daran hatte er keinen Zweifel, schon noch zu schätzen wissen. Genau wie ihn.

Der Uniformstoff war steif und kratzig, unbequem zu tragen und darüber hinaus verpflichtend für alle Rekruten im ersten Jahr. Die Kleiderordnung nahm dabei keine Rücksicht auf die Jahreszeiten oder besondere Gegebenheiten wie in Rossensprung, wo die schweren Stiefel allzu gern in saftig schmatzendem Schlamm steckenblieben oder dafür sorgten, dass der Halt auf schwankenden Hängebrücken verloren ging. Die Kleiderordnung scherte sich auch nicht darum, ob ein Rekrut den Versprechungen der Werber gefolgt und darum sein Kreuz unter einen Dienstvertrag gesetzt hatte, oder ob diese Verpflichtung als Teil einer angeborenen Gabe vorausgesetzt und dann eingefordert wurde.

Die Regeln und Gesetze waren jedenfalls eindeutig: Jeder Anwohner der Stadt hatte eventuelle magische Fähigkeiten zu registrieren und war darüber hinaus verpflichtet, eine fünfjährige Dienstpflicht in der Armee abzuleisten. Der ewigen Regel von Aktion und Reaktion folgend, hatte diese Gesetzgebung zur Entstehung eines Schwarzmarktes ganz besonderer Art geführt: Heimliche Ausbildung in den Künsten abseits des wachsamen Auges des Gesetzes. Damit war die Eskalationsspirale in Gang gesetzt: Auf das Ausweichen folgten verschärfte Gesetze und die Androhung strengerer Strafen.

Noch vor Wochenfrist war das für Fel eine zwar präsente, gleichzeitig aber abstrakte Sorge gewesen. Vier Tage später hatte sich die Welt auf den Kopf gestellt. Es war nicht so, als wären Fel die Gesetze nicht bekannt gewesen, aber erst als sie gezwungen wurde im drögen, halb unter Wasser stehenden Innenhof des gräflichen Gerichts der Hinrichtung ihrer mehrjährigen Lehrmeisterin zuzusehen, begriff sie wirklich, was sie bedeuteten.

Wer hatte die Büttel auf die Spur gebracht, wer war bereit gewesen, mit dem stehenden Kopfgeld von 50 Silbermünzen das eigene Gewissen zu erschlagen? Oder war es ein erbarmungsloser Zufall gewesen, der dem langjährigen verborgenen Treiben der blinden Seherin schließlich ein Ende bereitet hatte? Unter dem trüben Nachmittagshimmel voller tiefhängender grauer Wolke ballte Fel ihre Fäuste und schwor im Stillen Vergeltung für den Verrat.

Der Hinrichtung beizuwohnen war nicht einmal eine geplante Strafe, sondern schlichter, gedankenloser Zufall: Die gesamte im Südflügel des Gerichtsgebäudes untergebrachte Kompanie wurde zum Zeugen der Vollstreckung des gräflichen Rechts, so wollte es die Tradition. Und jene Kompanie würde für die nächsten fünf Jahre Fels Heimat sein.

Einen Magier zu finden, der die Ausbildung unwilliger Jungmagier ertrug, konnte keine leichte Aufgabe sein: Die Armee war nicht dafür bekannt, gut zu zahlen, wer seine Dienstjahre hinter sich gebracht hatte, der konnte leichte, sehr viel besser honorierte Arbeit ohne Mühe überall finden. Nach Fels Einschätzung konnte eine solche Person also nur ein inbrünstiger Karrierist sein, der leichtgläubig dem Irrglauben erleben war, sich mit dieser Art von Dienst einen besonders warmen Platz im Hinterteil des Grafen zu verdienen - oder ein Versager, der es außerhalb der Mauern der Kaserne noch nicht einmal fertig brachte die Stiefel zu schnüren ohne dazu aufgefordert worden zu sein.

Das kleine Büro im höchsten Geschoss des Westturms war nur über eine knarrende Holztreppe mit verzogenen Stufen zu erreichen, ein unvermeidlicher Tribut an das sumpfige Erbe Rossensprungs und die Feuchtigkeit, die auch jetzt langsam von allen Wänden im engen Aufgang tropfte. Vermutlich war all das hier einmal weiß getüncht gewesen, aber das Wasser hatte im Laufe der Jahre dunkle Streifen hinterlassen und eigenwillige Muster in die ehemals nüchterne Kargheit geprägt. Sichtbare Nägel und Querstangen aus Metall waren gleichermaßen von Rost gezeichnet. Alles war klamm und feucht, jede der krummen Stufen eine lauernde Falle für die noch nicht eingelaufenen Stiefel mit den noch viel zu dicken Sohlen und steifen Schäften.

Das Arbeitszimmer machte keinen wesentlich besseren Eindruck, der Geruch nach Schimmel war so übermächtig, dass Fel mit dem Hustenreiz kämpfte, kaum, dass sie die Türe hinter sich geschlossen hatte. Also kein Streber. Gut. Mit Abschaum hatte sie im Laufe der Jahre umzugehen gelernt.

"Rekrut Fel Maris. Mir wurde befohlen, mich hier zu melden."

Zum ersten Mal sah der Mann hinter dem wuchtigen, eigenwillig deformiert wirkenden Schreibtisch auf und Fel konnte exakt den Moment bestimmen, an dem der Mann der “Anomalie” bewußt wurde - allzu verräterisch flackern der Blick der wasserblauen Augen, bevor die Lippen sich zu einer dünnen, unwilligen Linie verzogen.

"Ich bin Arngrimm Jerwalson, Magier-Feldwebel der zweiten Kompanie und Euer zugeordneter Ausbilder für alle magischen Themen. Ihr habt offenbar bereits eine gewisse, illegale Vorbildung erhalten. Vermutlich bedeutet das, dass Euer Kopf mit gefährlichem Halbwissen vollgestopft ist. Es wird meine Aufgabe sein, dieses Problem zu korrigieren."

Die noch offen gehaltene Akte wurde geschlossen - das Papier bereits gewellt durch die unvermeidliche Feuchtigkeit - dann setzte der Mann nach: "Hübsche Ohren."

Fel spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen kroch. Das war plump, selbst für einen armseligen Wicht in einem traurigen Büro mit einem undankbaren Tagewerk. Es hätte keinen Grund geben sollen, sich peinlich berührt zu fühlen, aber dennoch kämpfte sie für lange Sekunden mit einer Antwort und bevor sie etwas herauswürgen konnte, hob der Mann schon wieder seine Stimme.

"Ich habe hier euren Dienstplan, der in einigen wesentlichen Punkten von dem anderer Rekruten abweicht. Es ist Eure Verantwortlich pünktlich zu allen angesetzten Terminen zu erscheinen - kein Gefreiter wird Euch an die Hand nehmen und hierher führen. Bringt Ihr es fertig Eure Ausbildung zu versäumen, werden diese Tage Eurer Dienstpflicht oben aufgeschlagen. Es ist also in Eurem besten Interesse, stets pünktlich zu sein. Es gibt derzeit nur drei Schüler, was bereits zwei mehr sind als meine Geduld her gibt. Eine erste Einführung zu den Worten der Macht beginnt in einer Stunde. Wegtreten."

Breitenbach, dieser Tage die größte Stadt der Grafschaft Siebensteig, war mit den acht Tugenden im Kopf gegründet worden. Davon zeugten auch dieser Tage noch die acht Türme der inneren Mauer, die jeweils die Namen eines der Erzengel trugen. In den Jahrhunderten seit der Grundsteinlegung war die Stadt weit über die Grenzen dieses Kern hinaus gewachsen, hatte die anliegende Furt vollkommen gezähmt und überbaut, auch das andere Seite des Ufers der Usser mit einverleibt um schließlich selbst die Grafenstadt Beiring in den Schatten zu stellen - zumindest wenn man allein die Einwohner zählte.

Die große Spaltung hatte Breitenbach zum wichtigsten Verbündeten Beirings gemacht und damit zu einem konservativen Vertreter einer Ordnung von Recht und Gesetz. Aus dem Sinnbild der acht Erzengel waren im Laufe der Jahre Posten gewachsen, die mit der tatsächlichen Kirche des Herrn nur sehr, sehr lose verbunden waren.
Aus der Gründerzeit blieb jedoch die Tradition erhalten, dass diese “Wahrer” nicht nur spezielle Aufgabengebiete in der Stadt zu erfüllen hatten, sondern darüber hinaus aus den Reihen ihrer Gefolgschaft legitimiert, erhoben - also gewählt wurden.

Der “Wahrer der Ordnung Havriels”, verpflichtet der Tugend der Rechtschaffenheit, war immer abwechselnd mit dem “Wahrer der Ordnung Gabriels” dazu verpflichtet, die Gesetze der Stadt auszulegen und Urteile zu sprechen. In einer idealen Welt hätte es keinen Unterschied zwischen einer Auslegung zwischen “Rechtschaffenheit” und “Gerechtigkeit” geben sollen, aber die Wirklichkeit sah einfach anders aus. Insbesondere aufsehenerregende Prozesse wurden denn auch von beiden Seiten gleichermaßen dafür instrumentalisiert, ihre Anhänger für die nächste Wahl zu motivieren.

Eine ganze Bande von Herumtreibern, Tunichtguten und Dieben in eine Falle zu locken und festzusetzen, war bereits ein Spektakel gewesen, das eigentliche Schaustück folgte dann jedoch mit dem Prozess bei dem letztlich Recht auf traditionelle Weise gesprochen wurde: Jeder der Ertappten, der schon früher einmal bei einem Diebstahl ertappt worden war, würde seine linke Hand verlieren. Jene, die in der Vergangenheit dem Gesetz entkommen waren, würden ein Jahr lang ihre Schuld gegenüber der Gesellschaft und den Tugenden n den Bergwerken abarbeiten.

In den folgenden Jahren sinnierte Fel in den dunkleren Stunden bisweilen darüber, welche Richtung ihr Leben wohl eingeschlagen hätte, wenn sie damals geistesgegenwärtig genug gewesen wäre, um bei der Angabe ihres Namens zu lügen: Hätte sie ein weiteres Jahr in den engen Tiefen durchgestanden, stets mit dem drückenden Gefühl endlosen, zerquetschenden Gewichts über dem Kopf, stets der Tatsache bewusst, dass Jasser, der letzte überlebende ihrer Brüder, sein Leben für den immer hungrigen Groll der grimmigen Stollen gegeben hatte?

Den modernen Zeiten geschuldet, schlug man im fortschrittlichen Jahr 433 nach der Gründung in Breitenbach keine Hände mehr ab, sondern zermalmte sie stattdessen. Das machte die ganze öffentlich durchgeführte Prozedur weniger blutig, aber nicht weniger beeindruckend: Nach dem fünften auf diese Weise gestraften Bandenmitglied kehrte unruhige Stille in die zuvor frohlockende Menge ein. Der Wahrer der Ordnung war es zufrieden: Er hatte vor allem im Angesicht des schwelenden Konflikts mit dem ewigen Konkurrenten Auenstein Entschlossenheit und Härte demonstriert, ohne sich zu unvernünftiger Rachsucht hinreißen zu lassen. Dem Gesetz - und der Gerechtigkeit - waren Genüge getan.

Für Fel, die die zuvor in ihrem Leben die Stadt auch nur verlassen hatte, war das hier draußen eine unbekannt Weite voller unklarer Gefahren.
Wie eine bittere Ironie des Schicksals, war es gerade der nahezu unerträgliche Schmerz der verstümmelten, nutzlosen Linken, die sie davon abhielt auf irgendwelchen Umwegen den Rückweg hinter die feindseligen Mauern Breitenbachs zu suchen.

Sie begann die Reise nicht allein, aber als sie Wochen später die Gestade Grauhafens an der Usser erreichte, war auch der letzte ihrer früheren Begleiter, Kameraden und Verbündeten verschwunden. Mit dem ersten Schritt hinein in die florierende Hafenstadt schwor sie sich von nun an ein neuer Mensch zu sein, den verhängnisvollen Pfaden der Vergangenheit nicht länger zu folgen. Wie eine Raupe, die sich verpuppte, um schließlich als Schmetterling ganz neue Horizonte zu entdecken.

Es sollte keinen ganzen Tag bis zum ersten Diebstahl brauchen.