Fel Maris

Aus Nirgendmeer
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Auf den ersten Blick

Die Körpergrösse von ungefähr 165 Halbfingern ist von unaufälliger Normalität, die gesamte Gestalt wirkt recht filigran, die Züge erscheinen prägnant geschnitten und verraten bereits das gemischte Erbe, das sich in den fein angespitzen Ohren noch deutlicher ausdrückt: Fel ist ohne Mühe als Halbblut eines menschlichen und eines hochelfischen Elternteils zu identifizieren.

In den blauen Augen findet sich offenes Interesse, gemildert durch Wachsamkeit. Wenngleich nicht unangemessen nervös, wirkt sie wie jemand, der gern über die eigene Schulter sieht, stets getrieben von immer präsentem schlechten Gewissen.

Das rotblonde Schopfhaar wird nur selten offen getragen und lockt sich bei der geringsten Feuchtigkeit, formt damit einen ungehorsamen Gegensatz zur moderat unaufälligen Kleiderwahl.

Das gemischte Erbe macht es schwer durch das Aussehen allein ihr Alter einzuschätzen: Sie ist ohne Zweifel erwachsen, darüber hinaus erlaubt weitere Beobachtung von Verhalten und Gebaren die Einschätzung, dass sie sich irgendwo im Bereich zwischen Anfang und Mitte Zwanzig befinden sollte.


Eigenheiten und Merkmale

  • die linke Hand gehorcht merklich schlechter, die Finger sind unflexibel
  • Furcht vor engen und dunklen Räumen, bisweilen Alpträume die auf ihre Zwangsarbeit im Bergwerk zurückgehen

Lebenslauf

  • 417 geboren in Breitenbach
  • 428 bis 429: Arbeitsdienst im Strafbergwerk Breitenbach
  • 433 Verbannung aus Breitenbach und Ansiedlung in Grauhafen
  • 436 Anstellung im Handelshaus Telketh für einfachste Hilfsarbeiten
  • 440 Übersiedlung nach Rossensprung im Dienste des Hauses Telketh
  • 443 Beginn der magischen Ausbildung bei der blinden Seherin Myra
  • 447 Zwangsrekrutierung für die Armee entsprechend lokaler Gesetzgebung, Ausbildung durch Arngrimm Jerwalson
  • 450 Überfahrt im Zuge regulärer Dienstverpflichtungen, Schiffsbruch vor der neuen Insel, Spielbeginn

Familie

  • Vater unbekannt
  • Mutter Lia Maris (* 385, Verbleib unbekannt seit 424)
  • Bruder Themon (* 410, Verbleib unbekannt seit 424)
  • Bruder Jasser (413 - 429)
  • Bruder Fihan (414 - 428)

Notizensammlung

Dramatis Personae

Geschichte

"Ich verstehe das Problem nicht richtig. Die Worte haben eine ihnen innewohnende Kraft. Du musst dich einfach darauf einstimmen, dich ihrer Führung übergeben, während du gleichzeitig das Ziel des Zaubers selbst fest und bestimmt vor Augen hälst. Ich hätte geglaubt, dass gerade du damit keine Probleme hast."

Ludwig machte sich nicht die Mühe die Irritation aus seiner Stimme zu verdrängen. Er mochte Fel, aber sie war manchmal geradezu nervtötend begriffsstutzig, vor allem bei so einfachen Dingen wie den Worten der Macht. Das allein war noch kein Grund für Verärgerung, aber die Zeit für diese Art von Ausbildung war knapp bemessen und wertvoll: In den reichen Häusern Rossensprungs mochte es ja so sein, dass jemand mit der Gabe von allen Pflichten und Aufgaben freigestellt wurde, um sich ganz dem Studium dieser Kräfte zu widmen, aber das galt nicht dort, wo das Kopfsteinpflaster löchrig, die Dächer undicht und die Umgangsformen rauer wurden. Ludwigs war ein Schusterlehrling im dritten Jahr und das war es, was Essen auf den Tisch brachte. Diese Abende unter der Anleitung der alten Seherin fielen unter ein Siegel der Verschwiegenheit, zwangsläufig verborgen nicht nur vor der Obrigkeit, die mit harter Hand Loyalität und Dienst aller Zauberkundigen innerhalb der Grenzen der Stadtmauern einforderte, sondern eben auch vor dem knauserigen Schustermeister, der keine Gelegenheit ausließ um seine Lehrlinge zu schinden.

"Ich hätte gedacht, dass gerade du das verstehen solltest. Es sind nicht einfach nur Buchstaben auf Pergament, Fel. Du musst fühlen, was dahinter ist."

Fel war älter als Ludwig und schon länger eine Schülerin der alten blinden Seherin, die ihre windschiefe Hütte im Schatten der alten Mauer hatte. Rossensprung war auf unsicherem, sumpfigen Grund errichtet, die alte Mauer war ein Teil der ursprünglichen Kernsiedlung und dieser Tage zu weiten Teilen entweder versunken oder für Steine zerlegt. Nur hier und dort gab es noch Reste, die sich wie verbleibende Zähne in einem zertrümmerten Gebiss dem endgültigen Verfall entgegen stemmten.
Wer hier lebte, der tat es selten freiwillig, die Eltern in den hübscheren Viertel der florierenden Hafenstadt warnten ihre Kinder vor der Brache und den Krankheiten, die man sich dort einfangen konnte.

Mit diesen Geschichten war Ludwig aufgewachsen und auch jetzt schauderte er noch regelmäßig, wann immer er die schiefen Reste des Fischertors durchschritt und den allmählich verrottenden Planken und Hängebrücken folgte, die bis zum Haus seiner zweiten, inoffiziellen Lehrmeisterin führte.

"Du bist zu unbeweglich. Das System funktioniert nicht so. Du kannst nicht einfach nach strikten Gegensätzen schauen und diese einander zuordnen. Denk an die Brücken hier in der Brache: Sie biegen sich und schwanken, sind krumm und schief, aber sie führen dennoch meistens zum Ziel."

Magische Theorie auf dieser Ebene war für Ludwig vollkommen einsichtig, vielleicht weil er während seines gewöhnlichen Tagewerks so viel Zeit hatte, die Gedanken wandern zu lassen. Während die Finger mit Ahle, Falzzange, Klopfstein und Knieriemen beschäftigt waren, ließen sich die unverhandelbaren Komponenten der Zauber im Geist bestens zusammensetzen.

Fels Stimme ließ ihre Frustration durchklingen.
"Ich verstehe einfach nicht, warum es abweicht. Jeder der drei einfachen Schwächungszauber benutzt Nachtschatten als eine Reagenz. Jeder der drei einfachen Stärkungszauber benutzt Alraune als eine Reagenz. DES MANI zum Schwächen, UUS MANI zum Stärken. UUS WIS zum Schärfen des Geistes, aber REL WIS anstelle von DES WIS? UUS JUX meinetwegen um das Ungeschick zu erhöhen, aber dann wiederum weder DES JUX noch REL JUX, sondern EX UUS! Das letzte Paar benutzt dann immerhin passend jeweils Blutmoos, auch beim Zauber für die Geistesschärfe und die Dummheit findet sich gleichartig die Spinnenseide, aber ausgerechnet bei der Stärkung und Schwächung bricht das ganze System auf: Alraune und Schwarze Perle? Warum bitte?"

Das waren Fragen, die die alte Seherin normalerweise unbeantwortet ließ, mit einem Schulterzucken abtat, wann immer sie einem ihrer Schüler in die Quere kamen. Neugier brachte ihrer Meinung nach gar nichts: Wem half es schon zu wissen, warum genau nun bestimmte Bestandteile eines Zaubers zusammenwirkten, solange sie es taten? Zeit für solchen Firlefanz hatten nur reiche Schnösel, die nichts zu tun hatten, als über die Welt und den erstaunlichen Mangel an Frauen in ihrem Leben nachzudenken.

Und Ludwig hatte schon früh gelernt sich keine überflüssigen Fragen zu stellen.
"Ich weiß es nicht, Fel. Aber es braucht auch keine vollkommene Ordnung. Darüber hinaus hast du übersehen, dass der Schwächungszauber ebenfalls die Alraune verwendet. Das heisst in der ganz einfachen Umkehrung mit der Ersetzung von Nachtschatten durch eine Alraune, hättest du plötzlich deren zwei in Verwendung. Du brauchst also etwas anderes - oder um genauer zu sein .."

Ludwig ließ die Worte ausklingen, kapitulierend vor dem verwirrten Blick seiner Mitschülerin.
Wie sollte er etwas erklären, das sich nicht in offensichtliche starre Regeln einfügen ließ? Alles spielte zusammen, die Flexibilität des Systems bestätigte sich durch seine Wirksamkeit selbst. Wenn es scheinbar gegen hergeleitete Regeln verstieß, dann war das einfach ein Problem der Regeln, nicht das Systems selbst.

"Du wirst hier in der Brache keine Antwort darauf bekommen, Fel. Wir halten den Kopf unten und lernen was wir können. Und sobald die Alte uns für bereit hält, können wir unser Glück andernorts machen."

Wie lange würde das dauern?
Ludwig hatte keine Zweifel, dass er in wenigen Monaten alles gelernt haben würde, was die Seherin ihm anzubieten hatte. Selbst jetzt war für ihn bereits offensichtlich wie löchrig das Fundament ihrer Kenntnisse war, wie gering ihr Interesse die Magie wirklich zu verstehen. Fel dagegen hatte - unbegreiflich für ihn - Mühe selbst diese kleine Barriere zu nehmen. Sie war schlau genug und darüber hinaus bereits erwachsen, das alles hätte ihr einen Vorteil geben sollen, aber ein um das andere Mal fand Ludwig sich dabei Erklärungen abzugeben, die in ihrer Tiefe auch seine Erfahrungen letztlich überstiegen.

Nicht, dass es ihn störte: Er mochte Fel und ihre Aufmerksamkeit war angenehm. Beflügelnd. Trotz ihrer hartnäckigen Schwierigkeiten mit der Flexibilität und Beweglichkeit des Systems der Magie. Er würde das, daran hatte er keinen Zweifel, schon noch zu schätzen wissen. Genau wie ihn.

Der Uniformstoff war steif und kratzig, unbequem zu tragen und darüber hinaus verpflichtend für alle Rekruten im ersten Jahr. Die Kleiderordnung nahm dabei keine Rücksicht auf die Jahreszeiten oder besondere Gegebenheiten wie in Rossensprung, wo die schweren Stiefel allzu gern in saftig schmatzendem Schlamm steckenblieben oder dafür sorgten, dass der Halt auf schwankenden Hängebrücken verloren ging. Die Kleiderordnung scherte sich auch nicht darum, ob ein Rekrut den Versprechungen der Werber gefolgt und darum sein Kreuz unter einen Dienstvertrag gesetzt hatte, oder ob diese Verpflichtung als Teil einer angeborenen Gabe vorausgesetzt und dann eingefordert wurde.

Die Regeln und Gesetze waren jedenfalls eindeutig: Jeder Anwohner der Stadt hatte eventuelle magische Fähigkeiten zu registrieren und war darüber hinaus verpflichtet, eine fünfjährige Dienstpflicht in der Armee abzuleisten. Der ewigen Regel von Aktion und Reaktion folgend, hatte diese Gesetzgebung zur Entstehung eines Schwarzmarktes ganz besonderer Art geführt: Heimliche Ausbildung in den Künsten abseits des wachsamen Auges des Gesetzes. Damit war die Eskalationsspirale in Gang gesetzt: Auf das Ausweichen folgten verschärfte Gesetze und die Androhung strengerer Strafen.

Noch vor Wochenfrist war das für Fel eine zwar präsente, gleichzeitig aber abstrakte Sorge gewesen. Vier Tage später hatte sich die Welt auf den Kopf gestellt. Es war nicht so, als wären Fel die Gesetze nicht bekannt gewesen, aber erst als sie gezwungen wurde im drögen, halb unter Wasser stehenden Innenhof des gräflichen Gerichts der Hinrichtung ihrer mehrjährigen Lehrmeisterin zuzusehen, begriff sie wirklich, was sie bedeuteten.

Wer hatte die Büttel auf die Spur gebracht, wer war bereit gewesen, mit dem stehenden Kopfgeld von 50 Silbermünzen das eigene Gewissen zu erschlagen? Oder war es ein erbarmungsloser Zufall gewesen, der dem langjährigen verborgenen Treiben der blinden Seherin schließlich ein Ende bereitet hatte? Unter dem trüben Nachmittagshimmel voller tiefhängender grauer Wolke ballte Fel ihre Fäuste und schwor im Stillen Vergeltung für den Verrat.

Der Hinrichtung beizuwohnen war nicht einmal eine geplante Strafe, sondern schlichter, gedankenloser Zufall: Die gesamte im Südflügel des Gerichtsgebäudes untergebrachte Kompanie wurde zum Zeugen der Vollstreckung des gräflichen Rechts, so wollte es die Tradition. Und jene Kompanie würde für die nächsten fünf Jahre Fels Heimat sein.

Einen Magier zu finden, der die Ausbildung unwilliger Jungmagier ertrug, konnte keine leichte Aufgabe sein: Die Armee war nicht dafür bekannt, gut zu zahlen, wer seine Dienstjahre hinter sich gebracht hatte, der konnte leichte, sehr viel besser honorierte Arbeit ohne Mühe überall finden. Nach Fels Einschätzung konnte eine solche Person also nur ein inbrünstiger Karrierist sein, der leichtgläubig dem Irrglauben erleben war, sich mit dieser Art von Dienst einen besonders warmen Platz im Hinterteil des Grafen zu verdienen - oder ein Versager, der es außerhalb der Mauern der Kaserne noch nicht einmal fertig brachte die Stiefel zu schnüren ohne dazu aufgefordert worden zu sein.

Das kleine Büro im höchsten Geschoss des Westturms war nur über eine knarrende Holztreppe mit verzogenen Stufen zu erreichen, ein unvermeidlicher Tribut an das sumpfige Erbe Rossensprungs und die Feuchtigkeit, die auch jetzt langsam von allen Wänden im engen Aufgang tropfte. Vermutlich war all das hier einmal weiß getüncht gewesen, aber das Wasser hatte im Laufe der Jahre dunkle Streifen hinterlassen und eigenwillige Muster in die ehemals nüchterne Kargheit geprägt. Sichtbare Nägel und Querstangen aus Metall waren gleichermaßen von Rost gezeichnet. Alles war klamm und feucht, jede der krummen Stufen eine lauernde Falle für die noch nicht eingelaufenen Stiefel mit den noch viel zu dicken Sohlen und steifen Schäften.

Das Arbeitszimmer machte keinen wesentlich besseren Eindruck, der Geruch nach Schimmel war so übermächtig, dass Fel mit dem Hustenreiz kämpfte, kaum, dass sie die Türe hinter sich geschlossen hatte. Also kein Streber. Gut. Mit Abschaum hatte sie im Laufe der Jahre umzugehen gelernt.

"Rekrut Fel Maris. Mir wurde befohlen, mich hier zu melden."

Zum ersten Mal sah der Mann hinter dem wuchtigen, eigenwillig deformiert wirkenden Schreibtisch auf und Fel konnte exakt den Moment bestimmen, an dem der Mann der “Anomalie” bewußt wurde - allzu verräterisch flackern der Blick der wasserblauen Augen, bevor die Lippen sich zu einer dünnen, unwilligen Linie verzogen.

"Ich bin Arngrimm Jerwalson, Magier-Feldwebel der zweiten Kompanie und Euer zugeordneter Ausbilder für alle magischen Themen. Ihr habt offenbar bereits eine gewisse, illegale Vorbildung erhalten. Vermutlich bedeutet das, dass Euer Kopf mit gefährlichem Halbwissen vollgestopft ist. Es wird meine Aufgabe sein, dieses Problem zu korrigieren."

Die noch offen gehaltene Akte wurde geschlossen - das Papier bereits gewellt durch die unvermeidliche Feuchtigkeit - dann setzte der Mann nach: "Hübsche Ohren."

Fel spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen kroch. Das war plump, selbst für einen armseligen Wicht in einem traurigen Büro mit einem undankbaren Tagewerk. Es hätte keinen Grund geben sollen, sich peinlich berührt zu fühlen, aber dennoch kämpfte sie für lange Sekunden mit einer Antwort und bevor sie etwas herauswürgen konnte, hob der Mann schon wieder seine Stimme.

"Ich habe hier euren Dienstplan, der in einigen wesentlichen Punkten von dem anderer Rekruten abweicht. Es ist Eure Verantwortlich pünktlich zu allen angesetzten Terminen zu erscheinen - kein Gefreiter wird Euch an die Hand nehmen und hierher führen. Bringt Ihr es fertig Eure Ausbildung zu versäumen, werden diese Tage Eurer Dienstpflicht oben aufgeschlagen. Es ist also in Eurem besten Interesse, stets pünktlich zu sein. Es gibt derzeit nur drei Schüler, was bereits zwei mehr sind als meine Geduld her gibt. Eine erste Einführung zu den Worten der Macht beginnt in einer Stunde. Wegtreten."

Breitenbach, dieser Tage die größte Stadt der Grafschaft Siebensteig, war mit den acht Tugenden im Kopf gegründet worden. Davon zeugten auch dieser Tage noch die acht Türme der inneren Mauer, die jeweils die Namen eines der Erzengel trugen. In den Jahrhunderten seit der Grundsteinlegung war die Stadt weit über die Grenzen dieses Kern hinaus gewachsen, hatte die anliegende Furt vollkommen gezähmt und überbaut, auch das andere Seite des Ufers der Usser mit einverleibt um schließlich selbst die Grafenstadt Beiring in den Schatten zu stellen - zumindest wenn man allein die Einwohner zählte.

Die große Spaltung hatte Breitenbach zum wichtigsten Verbündeten Beirings gemacht und damit zu einem konservativen Vertreter einer Ordnung von Recht und Gesetz. Aus dem Sinnbild der acht Erzengel waren im Laufe der Jahre Posten gewachsen, die mit der tatsächlichen Kirche des Herrn nur sehr, sehr lose verbunden waren.
Aus der Gründerzeit blieb jedoch die Tradition erhalten, dass diese “Wahrer” nicht nur spezielle Aufgabengebiete in der Stadt zu erfüllen hatten, sondern darüber hinaus aus den Reihen ihrer Gefolgschaft legitimiert, erhoben - also gewählt wurden.

Der “Wahrer der Ordnung Havriels”, verpflichtet der Tugend der Rechtschaffenheit, war immer abwechselnd mit dem “Wahrer der Ordnung Gabriels” dazu verpflichtet, die Gesetze der Stadt auszulegen und Urteile zu sprechen. In einer idealen Welt hätte es keinen Unterschied zwischen einer Auslegung zwischen “Rechtschaffenheit” und “Gerechtigkeit” geben sollen, aber die Wirklichkeit sah einfach anders aus. Insbesondere aufsehenerregende Prozesse wurden denn auch von beiden Seiten gleichermaßen dafür instrumentalisiert, ihre Anhänger für die nächste Wahl zu motivieren.

Eine ganze Bande von Herumtreibern, Tunichtguten und Dieben in eine Falle zu locken und festzusetzen, war bereits ein Spektakel gewesen, das eigentliche Schaustück folgte dann jedoch mit dem Prozess bei dem letztlich Recht auf traditionelle Weise gesprochen wurde: Jeder der Ertappten, der schon früher einmal bei einem Diebstahl ertappt worden war, würde seine linke Hand verlieren. Jene, die in der Vergangenheit dem Gesetz entkommen waren, würden ein Jahr lang ihre Schuld gegenüber der Gesellschaft und den Tugenden n den Bergwerken abarbeiten.

In den folgenden Jahren sinnierte Fel in den dunkleren Stunden bisweilen darüber, welche Richtung ihr Leben wohl eingeschlagen hätte, wenn sie damals geistesgegenwärtig genug gewesen wäre, um bei der Angabe ihres Namens zu lügen: Hätte sie ein weiteres Jahr in den engen Tiefen durchgestanden, stets mit dem drückenden Gefühl endlosen, zerquetschenden Gewichts über dem Kopf, stets der Tatsache bewusst, dass Jasser, der letzte überlebende ihrer Brüder, sein Leben für den immer hungrigen Groll der grimmigen Stollen gegeben hatte?

Den modernen Zeiten geschuldet, schlug man im fortschrittlichen Jahr 433 nach der Gründung in Breitenbach keine Hände mehr ab, sondern zermalmte sie stattdessen. Das machte die ganze öffentlich durchgeführte Prozedur weniger blutig, aber nicht weniger beeindruckend: Nach dem fünften auf diese Weise gestraften Bandenmitglied kehrte unruhige Stille in die zuvor frohlockende Menge ein. Der Wahrer der Ordnung war es zufrieden: Er hatte vor allem im Angesicht des schwelenden Konflikts mit dem ewigen Konkurrenten Auenstein Entschlossenheit und Härte demonstriert, ohne sich zu unvernünftiger Rachsucht hinreißen zu lassen. Dem Gesetz - und der Gerechtigkeit - waren Genüge getan.

Für Fel, die die zuvor in ihrem Leben die Stadt auch nur verlassen hatte, war das hier draußen eine unbekannt Weite voller unklarer Gefahren.
Wie eine bittere Ironie des Schicksals, war es gerade der nahezu unerträgliche Schmerz der verstümmelten, nutzlosen Linken, die sie davon abhielt auf irgendwelchen Umwegen den Rückweg hinter die feindseligen Mauern Breitenbachs zu suchen.

Sie begann die Reise nicht allein, aber als sie Wochen später die Gestade Grauhafens an der Usser erreichte, war auch der letzte ihrer früheren Begleiter, Kameraden und Verbündeten verschwunden. Mit dem ersten Schritt hinein in die florierende Hafenstadt schwor sie sich von nun an ein neuer Mensch zu sein, den verhängnisvollen Pfaden der Vergangenheit nicht länger zu folgen. Wie eine Raupe, die sich verpuppte, um schließlich als Schmetterling ganz neue Horizonte zu entdecken.

Es sollte keinen ganzen Tag bis zum ersten Diebstahl brauchen.

Die Rivalität zwischen den beiden Grafschaften Auenstein und Siebensteig, ausgelöst durch die Absplitterung Auensteins im Jahr 42 nach der Gründung, hatte nach Fels Ermessen zu einer ganzen Anzahl von Kuriositäten im Laufe der Zeit geführt. Anekdoten, die manchmal vergessen ließen, wie ernst der Konflikt tatsächlich war. Aus dem stetigen Schwelen wurde immer wieder einmal ein abrupter Brand, ein gewalttätiges Ringen, das selbst jetzt, gute vierhundert Jahre nach dem Anfang noch niemand als tatsächlicher Sieger hervorgegangen war.

Eine dieser Kuriositäten war, dass Auenstein Frauen im Militärdienst erlaubte und ihnen sogar Zugang zu Offiziersrängen ermöglichte. Natürlich nicht uneingeschränkt: Fortschritt und Aufgeschlossenheit hin oder her, die 422 eingeführte große Reform bezog sich ausschließlich auf Magier (solange diese nicht auf einem Schiff dienten) und kürzte die Karriereleiter zudem auf den Rang eines Leutnants. Weibliche Kompetenz hin oder her, niemand wollte eine ganze Kompanie tatsächlich einer Frau ohne männliche Oberaufsicht anvertrauen.

Wenngleich die allgemeine Einschätzung war, dass Magier zu wertvoll waren, um als einfache Soldaten verschwendet zu werden, war eine Grundausbildung unumgänglich, wenn man sich einen Rang nicht direkt erkaufen konnte. Und das wiederum war die Ursache dafür, dass Fel nun mit einer ganzen Gruppe anderer Rekruten über schlammigen Grund kroch, um danach in klitschnasser, vollkommen verdreckter Uniform die hohe Kunst des Exerzierens zu üben.
Auensteins Militärphilosophie, zumindest soweit es den Teil in Rossensprung betraf, glaubte an Drill, Gehorsam und Drill. In ganzen Büchern wurde darüber lamentiert, wie es notwendig war neue Soldaten durch eine Hölle von Demütigung und Erniedrigung zu peitschen, bis aus dem gemeinsamen Schmerz der Gruppe schließlich ein Gemeinschaftsgefühl erwuchs, das letztlich bereit war auf einen feindlichen Pikenwall zu zu stürmen.

Die Doktrin erlaubte an diesem Punkt der Ausbildung keine Reagenzien oder andere Hilfsmittel für Magier, nichts, was es Fel ermöglichte hätte, mit den anderen Rekruten zumindest gleichzuziehen.

Gerade jetzt, in der Mitte einer sumpfigen Strecke mit knöchelhoch stehendem Wasser über saftigem, schlammigen Grund fühlte Fel sich dem Tode nah: Die Erschöpfung hing so tief in ihren Knochen, dass jeder einzelne Schritt sich wie eine Qual anfühlte und die geflüsterten Flüche ihrer Begleiter waren voller wütender Ressentiments: Eine Gruppe, so hatte der Ausbilder doziert, war nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Niemand durfte zurückgelassen werden, aktive Unterstützung war aber ebenfalls untersagt: Dies war schließlich die Grundausbildung!

Wo die schnellste Gruppe sich Lob und den besten Platz bei der Mittagsverpflegung erhalten würde, blieb für die Verlierer in diesem Wettrennen vielleicht nicht einmal genug Zeit, um überhaupt den Magen zu füllen, bevor bereits das Üben von Formationen im Gelände anstand. Zuckerbrot und Peitsche, alles für das Wohl der Armee und zur Motivation einer stetigen Verbesserung.

Nur, dass das System für Fel einfach nicht funktionierte: Allein ihretwegen hing die Gruppe weit hinter allen Anderen zurück und das entfachte nicht etwa das warme Feuer gemeinschaftlicher Verbundenheit sondern kalter Verachtung und Wut.

“Los, verdammt nochmal, vorwärts Maris!”
“Elendes Weib, warum mussten wir das Pech haben, sie zu bekommen.”
“Dreckiges Halbblut ist für nichts Nutze, wir sollten sie hier ersaufen lassen.”

Die gepressten Flüche wandelten sich in Fels Wahrnehmung in ein gleichförmiges Summen, unbedeutend vor der Erschöpfung. Nur einen Moment ausruhen. Innehalten.

Sie kam zu sich, als ihr Gesicht in das brackige Wasser getaucht wurde, eine unnachgiebige Hand im Nacken, die es ihr in Verbindung mit dem matschigen Untergrund unmöglich machte, irgendwo Halt zu finden. Die um sich schlagenden Arme fanden nur zähen Schlamm, die Füße steckten ohnehin noch tief genug im Matsch, dass die Gefahr bestand die Stiefel zu verlieren und die gesamte getragene Ausrüstung schränkte die verbleibende Beweglichkeit soweit ein, dass selbst ein auf den Rücken geworfener Käfer bessere Chancen gehabt hätte wieder auf die Füße zu kommen.
Das heiße Aufwallen von Panik erschöpfte sich binnen Sekunden und Fel spürte ihren ganzen Körper schwerer werden, während die Wahrnehmung sich eigenartig entfernte, schrumpfte. Das war es. Ersäuft wie ein junges Kätzchen im Sumpf von ihren eigenen Kameraden. Der Gedanke war nicht mehr genug, um die bleischwere Gleichgültigkeit abzustreifen, die sich ihrer bemächtigte.

Etwas, vielleicht ein Stiefel, traf ihre Flanke hart genug, um die Rippen nachgeben zu lassen, dann zerrte die feste Hand im Nacken ihren Kopf wieder aus dem schlammigen Nass.


Vier Stunden später saß Fel im längst schon vertrauten Büro Jerwalsons, der sie wie stets betrachtete: Ein Ärgernis, das ihn zwang, seine Zeit und Aufmerksamkeit für wichtigere Dinge einzusetzen.

“Ich habe ihn gewarnt. Aber Leutnant Caimbeul ist ein Patriot. Er ist einer dieser Männer, die ihren ganzen Stolz in ihre hohen Maßstäbe stecken und sich persönlich beleidigt fühlen, wenn etwas - oder jemand - nicht in der Lage ist, diese Maßstäbe zu erfüllen. Das funktioniert leidlich mit dem normalerweise vorhandenen Material, aber es war abzusehen, dass du ihn enttäuschen werden würdest. Wessen Schuld ist es also?”

Das Lächeln des Mannes war dünn, die unehrliche Maske eines Zyniker, der selbst ohne die kleinste Scheu Fallen stellte und Fel fragte sich nicht zum ersten Mal, was Jerwalson hierher verschlagen, welches Schicksal ihn gezwungen hatte als Feldwebel der Auensteiner Armee zu dienen.

Unter dem kalkulierenden Blick des Ausbilders war sie sich ihrer eigenen Erscheinung nur zu bewußt: Das kurzgeschorene Haar betonte die Fremdartigkeit ihrer Gesichtszüge nur noch, die feinen Ohrspitzen waren ebenso unübersehbar, wie die filigrane Schmalheit der ganzen Statur. In der Stadt hatte es nie die Notwendigkeit gegeben Kraft oder Ausdauer zu entwickeln: Schnelle Reflexe und die Fähigkeit sich rasch wegzuducken waren selbst in Fels Jahren auf der Straße immer ausreichend gewesen und ihre Zeit im Dienst des Hauses Telketh hatte auch jenen Fähigkeiten die Schärfe genommen.
Die Uniform verbarg die straff um die Rippen gezogenen Verbände, aber natürlich würden sie im Einsatzbericht erwähnt sein, der sich vor Jerwalson auf dem Schreibtisch wellte. Die verdammte Feuchtigkeit war einfach überall.

“Es gibt keine Möglichkeit für Euch, in irgendwie angemessener Zeit diese Anforderungen zu erfüllen. Die beiden angebrochenen Rippen sind dahingehend ein Segen: Ihr seid für die nächsten Wochen vom regulären Außendienst befreit, könnt - und werdet - aber in dieser Zeit mit den regulären Studien fortfahren. Militärgeschichte, Strategie, Taktik und natürlich Magie. Macht Euch in der Zeit einen Kopf, wie Ihr mit der Situation umgehen wollt. Sitzt es aus, und ihr seid in einem Mond wieder in diesem Sumpf, nur dass es dieses Mal vielleicht niemanden gibt, der einen ..” - er blickte auf den Bericht hinab - “.. unglücklichen Unfall vermeiden kann.”

“Das ist nicht gerecht.”

Für lange Momente starrte Jerwalson nur, mehr Erstaunen als Verachtung in den wasserblauen Augen, dann lehnte er sich zurück in den abgewetzten Sessel um Fel zu studieren wie einen besonders absonderliche Fliege, die es gerade gewagt hatte ein Bad in seinem Weinglas zu nehmen.

“Ich bin erstaunt. Gerechtigkeit. Von Euch. Ein Mann, der die richtigen Fragen stellt, hat es nicht allzu schwer, die Herkunft eines Halbbluts nachzuvollziehen, auch wenn die Finger mich beinahe von der Fährte geworfen hätten.”
Er deutete beiläufig auf die linke Hand Fels, die sich unter der Geste ganz unwillkürlich zur Faust ballte. Nur ein scharfes Auge war in der Lage zu bemerken, dass sie nicht ganz gleichmäßig reagierten, nicht ganz so schnell, wie man es vielleicht erwarten sollte.

“Was wollt Ihr damit sagen?”

“Dass ich kein Schauspiel schätze. Ich bin sicher, dass Ihr besser als die meisten Rekruten dieser Armee wisst, dass man nichts geschenkt bekommt. Alles hat seinen Preis, auch wenn er manchmal erst später präsentiert wird.
Schön. Aus gegebenem Anlass werden wir Theorien und Übung zu heilender Magie vorziehen. Wir werden gleich sehen, wie gut ihr meine Anweisungen zur Anweisung des Ginsengsirups befolgt habt.”

Vor dem Aufstieg zur großen Handels- und Hafenstadt, war Rossensprung eine unbedeutende Ansiedlung gewesen, nicht einmal interessant genug für einen abgeordneten Ritter um die sumpfige Landschaft der hier in viele Finger zerfasernden Usser im Auge zu behalten.
Dennoch hatte es schon recht früh am Hauptlauf des Flusses ein paar einzelne Hütten gegeben: Ein Umschlagplatz für flussaufwärts geschlagenes Holz, das hierher geflößt und dann weiter in Richtung anderer Städte verschifft wurde.

Eine frühe Beschreibung der Ansiedlung aus dem Jahr 37 nach der Gründung beschrieb bereits den traurigen Alltag von Torfstechen, die mit dem unsicheren Grund und den heißen Quellen zu kämpfen hatten, erwähnte auch die stets präsente Feuchtigkeit die allzeit über der Stadt hing wie eine unerfreuliche Glocke. Rossensprung stank nach Schwefel, Fäulnis und Verfall, genug um den Autoren wettern zu lassen, dass es keine weiteren zwei Dutzend Jahre dauern würde, bis diese Brutstätte für Krankheiten und Niedergeschlagenheit menschenverlassen sei.

Das Schicksal wollte es anders, auch wenn in den kommenden Jahrzehnten eines vollkommen klar wurde: Was auch immer aus Stein gebaut wurde, das versank langsam im Schlamm und trieb damit ganze Generationen von Architekten in den Wahnsinn, denn jeder Versuch ein Fundament irgendwo im Untergrund zu verankern, erwies sich letztlich als fruchtlos. Ganz gleich wie viel Mühe, Sorgfalt und Planung auch aufgewendet wurde: War es aus Stein, wurde es irgendwann vom Sumpf geschluckt. Im Falle von Gebäuden führte das zu einem gewissen schulterzuckendem Pragmatismus: Jede Generation musste einfach das Dach abtragen, ein neues Stockwerk obenauf setzen und die tiefsten Keller aufgeben, die irgendwann selbst einmal ein Dachboden gewesen waren.
Was dagegen aus Holz gefertigt wurde, das fiel unvermeidlich eher früher als später der Feuchtigkeit zum Opfer.
Dieser Art war das Leben: Ein stetiger, langsamer Wandel und die immer präsente Erinnerung an die Vergänglichkeit alles Seins. Würden alle Menschen von einem Tag auf den anderen aus Rossensprung verschwinden, dann würde es keine 30 Jahre dauern, bis von ihrer vorherigen Präsenz nichts mehr zu sehen sein würde.

An diesem Abend hing auch Fel ähnlichen Gedanken nach, während sie ganz im Westen der Stadt über faulende Hängebrücken balancierte um die letzten windschiefen Katen zu erreichen. Die alte Hütte der blinden Seherin hatte das Schicksal ereilt, war gemeinsam mit einem Rest der alten Stadtmauer kollabiert und das hatte sie gänzlich in die Peripherie der Siedlung getrieben.
Alles änderte sich, nur Fel fühlte sich, als wäre sie kein Teil dieses Stroms, trieb so langsam, als wäre ein Anker an ihr befestigt, während alle anderen ihr Potential entfalteten und erblühten. Ludwig, der ihr für zwei Jahre ein getreuer, liebgewonnener Begleiter als geheimer Lehrling der Seherin gewesen war, hatte vor nunmehr Wochenfrist seine eigentliche Schusterlehre abgeschlossen und war nun ein Geselle, bereit mit Brief und Siegel seines Meisters in die Welt hinaus zu ziehen.
Nur, dass er nicht davon träumte ein Schuster zu werden: Ludwigs Wissen und Fähigkeiten im Umgang mit der Magie hatten das von Fel binnen Monaten überholt und nach zwei Jahren der Unterweisung hier am Rande von Rossensprung, stets in der Sorge, dass das strafende Auge des Gesetzes irgendwann aufmerksam werden würde, gab es für ihn nichts mehr zu lernen. Sich der Armee für fünf Jahre zu verpflichten, kam für Ludwig nicht in Frage und außerhalb der Grafschaft Auenstein würde man einem Magier ganz andere Möglichkeiten bieten.

‘Ich beneide ihn.’
Der Gedanke kam ungerufen, während Fel die letzte Planke überquerte und sich dann der Führung eines gespannten Seils anvertraute. Soweit draußen war es unvermeidlich, sich die Füße schmutzig zu machen, durch den zähen Schlamm zu waten. Es war gefährlich, von der durch das Seil vorgegebenen Linie abzuweichen: An manchen Stellen gab es regelrechte Löcher im Untergrund, unsichtbar durch das trübe Wasser, bis man hinein trat. Manche waren nur unbequem, durchnässten die Beinkleider und beschädigten die Würde. Andere konnten einen Spaziergänger im Nu verschlucken. Wie die meisten Anwohner Rossensprungs, hatte auch Fel nie gelernt zu schwimmen.. Rein theoretisch konnte die Magie ihr in einer solchen Situation zu Hilfe kommen, aber sie zweifelte, ob sie im Falle des Falles die notwendige Geistesgegenwart und Entschlossenheit aufbringen konnte, um die Panik zurückzudrängen und einen Zauber zustande zu bekommen. Von anderen logistischen Schwierigkeiten ganz zu schweigen. Besser also vorsichtig zu sein, jeden Schritt zu planen und sich nie allein der linken Hand anzuvertrauen, deren Finger niemals ganz ihre frühere Kraft und Geschicklichkeit zurückgewonnen hatten.

Im Alltag war das eine nur gelegentlich zu bemerkende Einschränkung, unbedeutend für die Arbeit im Kontor des Hauses Telketh, in dessen Gefolge sie vor nunmehr sechs Jahren nach Rossensprung gekommen war. Grauhafen war schöner, interessanter und vor allen Dingen trockener gewesen, aber diese Stadt hier hatte zwei sehr verschiedene Möglichkeiten geboten. Beide hatten sich auf ihre Art und Weise erfüllt: Im Laufe der Jahre waren Fels Aufgaben gewachsen, bis zu jenen einer vollwertigen Schreiberin, die ohne weitere Anweisungen Teile der Buchführung des Kontors erledigen konnte. Andere wurden vielleicht auch hier rascher befördert, aber sie kamen und sie gingen. Rossensprung war hart für jene, die den einfachen Luxus einer normalen Stadt gewohnt waren, nicht wenige entwickelten mit der Zeit einen hartnäckigen Husten oder eine nervöse Haut als Tribut an die immerwährende Feuchtigkeit.
Nach den sechs Jahren war Fel das am längsten hier arbeitende Mitglied des Handelshauses.

An den zweiten Vorteil, den die Umsiedlung nach Rossensprung mit sich gebracht hatte, dachte Fel ungern zurück, denn das gemahnte sie immer an eine Vergangenheit, die sie seit der Ankunft in dieser faulenden Stadt endgültig hinter sich zurückgelassen glaubte.

‘Aber so ist es nicht. Die Dinge verschwinden nur aus der Sicht, wie eine der aus Stein gefügten Mauern hier. Aber das bedeutet zunächst nur, dass man sie nicht mehr ohne Weiteres bemerken kann. Wer unaufmerksam ist, kann sich dennoch den Zeh daran stoßen.’

Der Gedanke - so beiläufig er eigentlich auch sein mochte - sorgte dafür, dass ihr Herzschlag sich beflügelte, die Stimmung mit dunklen Wolken driftenden Unbehagens füllte, bis sie endlich das Ende des markierten Pfades erreichte und damit auch eine kleine, zumindest halbwegs feste Insel inmitten der trügerisch ruhigen Brache. Von hier aus waren es kaum noch zwei Dutzend Schritt bis zum halb vermoderten, mittlerweile gänzlich von Moos und Krimmalgen überwucherten Rumpf einer hier aufgegebenen Barke und direkt daneben befand sich eine daran vertäute, schwimmende Plattform aus zusammengenagelten Brettern, jetzt besetzt von einer einzelnen, hockenden Gestalt, die in Richtung der Ankommenden spähte.

Trotz des trüben Zwielichts hatte Fel keine Schwierigkeit damit Ludwig zu erkennen, zu vertraut war seine Haltung. Viel hatte sich sonst in den letzten beiden Jahren verändert: Aus dem schlaksigen Jüngling war schon fast ein Mann geworden, der sie mittlerweile um einen halben Kopf überragte. Als sie sich neben ihn hockte, hatte sie keine Schwierigkeiten den dunklen Bartschatten auf seinen Wangen zu erkennen: Diese offene Rebellion hatte warten müssen bis zum offiziellen Abschluss der Schusterlehre. Die Veränderung hatte bereits begonnen. Und morgen würde er Rossensprung verlassen, vielleicht für immer.

Als hätte er diese Gedanken aufgefangen, lehnte Ludwig sich leicht zur Seite, eben weit genug, dass seine Schulter die der neugewonnenen Nachbarin berührte und hob die Stimme.

“In einem Jahr bin ich wieder zurück. Ich habe bereits alles durchgeplant, weißt du? Ich folge der Usser in Richtung ihres Oberlaufs, vorbei an Grauhafen, bis zur Grenze zwischen Auenstein und Siebensteig. Von dort aus komme ich mühelos weiter: Breitenbach ist dann der richtige Platz um einen neuen Lehrmeister zu finden. Ich erwarte ungefähr sechs Monate, vielleicht ein wenig schneller, wenn dein Vertrauen in mich begründet ist. Mit dem Beginn des Sommers werde ich dann einfach eines der Schiffe besteigen und hierher zur Mündung kommen, vielleicht reise ich sogar mit ein paar Flößern, was denkst du? Sie sind eine raue Bande, heißt es, aber überaus herzlich und ich denke, sie haben nichts gegen die Begleitung eines Magiers.”

Fel wollte widersprechen, darauf hinweisen wie abergläubisch solches Volk im Allgemeinen auf jeden Anwender von Magie reagierte, aber sie brachte es einfach nicht über das Herz. Nicht, weil Ludwig keine Korrektur vertragen hätte, sondern schlicht, weil er nur redete, um die Stille zu füllen, um die Decke von Wehmut abzuwehren.

‘Nichts bleibt. Alles ändert sich.’

Etwas wie ein Wellenschlag lief durch das Begreifen - für einen Moment war die Welt ganz fern, distanziert und unberührbar, in vollkommene Stille getaucht, durch die allein das Geräusch unbestimmbar ferner Atemzüge kroch. Gewaltig. Als würde ein Berg selbst seine Lungen füllen.

Fel erschauderte, sich zusammenduckend, während Ludwig den Kopf hob wie ein Jagdhund, dem eben gerade eine ganz eigenartige Witterung in die Nase gestiegen war. Warme Begeisterung fand Eingang in seine sich hebende Stimme:

“Hast du das gespürt Fel? Das war eine Störung im astralen Gewebe, darauf verwette ich meinen Gesellenbrief. Wie ein Reflex, ein Echo. Ich frage mich wirklich, was das ausgelöst hat. Kannst du dir überhaupt vorstellen, was das ausgelöst haben könnte? Irgendetwas.. Großes muss passiert sein!”

Und das, begriff Fel, war der eigentliche Unterschied zwischen ihnen beiden: Ludwig schaute erwartungsvoll in die Zukunft, zuversichtlich und entschlossen, bereit Wagnisse einzugehen und sich zu beweisen. Er würde an seinen Herausforderungen wachsen, während Fel blühte wie Nachtschatten: Verborgen und zurückhaltend, darauf wartend irgendwann von einer unbedachten Hand geknickt zu werden.

“Ich habe es bemerkt, ja. Und es muss etwas sehr starkes gewesen sein, dass wir es bis hierher spüren konnten. Myra wird fluchen: All ihre Tränke werden verdorben sein.”

“Dann lass sie fluchen! Sie ist ohnehin nie zufrieden. Komm, wir staken ein Stück tiefer in den Sumpf, bis zur Anhöhe der Glühwürmchen.”

Viele Stunden später schlich Fel sich im ersten Licht des neuen Morgen zurück in ihre Heimat. Erschöpft, wehmütig und dennoch von einer eigenartigen Zuversicht erfüllt. Sie würde auf Ludwig warten - ein Jahr war nicht so lang.

Wie von selbst schrieben ihre Finger jene Worte nieder, die seit dem Moment der Störung im Hintergrund ihrer Gedanken brodelten, gab den Silben Form und sich selbst damit Frieden.